Magnus Jonson 02 - Wut
auf dem alte graue Grabsteine neben neueren weißen Holzkreuzen standen. Dort lagen Hallgríms Vorfahren. Eines Tages in der fernen Zukunft, wenn er Glück hatte, vielleicht erst
im einundzwanzigsten Jahrhundert, würde sich Hallgrím zu ihnen gesellen.
Es gab keinen Pfarrer in Bjarnarhöfn. Der Pastor von Helgafell, dem kleinen Hügelchen in der Ferne, unweit Stykkishólmur, kam einmal im Monat herüber, um einen Gottesdienst abzuhalten.
Hallgrím öffnete die Tür. Benni saß in der ersten Bankreihe und starrte auf den Altar. Auf dem Schoß hatte er ein Buch. Hallgrím erkannte es, es war Benedikts Exemplar der Eyrbyggja .
»Hallo«, sagte Hallgrím und setzte sich zu ihm. »Was machst du hier?«
»Ich versuche zu beten«, sagte Benedikt.
»Wofür?«, gab Hallgrím zurück. »Die werden ihn doch nicht finden.«
»Für seine Seele.«
»Ach«, machte Hallgrím. Die Vorstellung von einer Seele hatte ihm nie so recht eingeleuchtet. »Ist alles in Ordnung, Benni?«
»Nein. Meine Mutter tut mir so leid. Sie hat keine Ahnung, was mit Vater passiert ist, und sie wird es nie erfahren. Wenn ich es ihr nicht erzähle.«
»Das kannst du nicht«, sagte Hallgrím.
»Warum nicht?«, fragte Benedikt. »Ich denke ständig darüber nach.«
»Das bringt uns Ärger.«
»Wir haben ihn ja nicht umgebracht.«
Hallgrím runzelte die Stirn. »Es würde meinem Vater großen Ärger einbringen.«
»Hat er ja vielleicht verdient.« Böse funkelte Benedikt Hallgrím an.
»Dein Vater hat es auch verdient. Ich weiß, dass er tot ist, aber alle glauben, er wäre ein Held. Wenn sie wüssten, was er getan hat, würden die Leute das nicht mehr denken.«
»Schon möglich.«
Die beiden Jungen schauten auf den Altar und das schlichte Kreuz.
»Benni?«
»Ja?«
»Wenn du’s weitererzählst, bringe ich dich um.« Hallgrím wusste nicht, warum er diese Drohung ausstieß: Sie kam wie aus dem Nichts. Aber er wusste, dass er es ernst meinte. Dass er sie in der Kirche ausgesprochen hatte, verlieh ihr noch größere Bedeutung.
Benedikt antwortete nicht.
»Erzähl mir eine Geschichte daraus, Benni!«, forderte Hallgrím und klopfte auf das Buch in Benedikts Schoß.
»Gut«, sagte Benedikt. Er starrte immer noch nach vorn auf den Altar und wich Hallgríms Blick aus. »Kannst du dich an Björn von Breiðavík erinnern?« Benedikt musste das Buch gar nicht aufschlagen, er kannte alle Geschichten auswendig.
»Der nach Amerika ging und da Häuptling wurde?«
»Genau. Willst du wissen, warum er dorthin fuhr?«
»Ja, warum?«
»Es gab eine schöne Frau namens Þuríð, die lebte in Fródá. Das ist in der Nähe von Ólafsvík.«
»Ich weiß.«
»Obwohl sie die Frau eines anderen war, traf sich Björn mit ihr. Er liebte sie.«
»Aha.« Hallgrím war sich nicht sicher, ob ihm diese Geschichte gefiel.
»Þuríðs Bruder war ein großer Stammesführer namens Snorri, der auf Helgafell lebte.«
»Du hast mir schon mal von ihm erzählt.«
»Also, Snorri war böse auf Björn und ließ ihn ächten, so dass er Island verlassen musste.«
»Das war damals«, sagte Hallgrím. »Mein Vater hätte deinen Vater nicht ächten lassen können. Das macht man heute nicht mehr.«
Benedikt ignorierte den Einwand. »Einige Jahre später kehrte Björn nach Breiðavík zurück und traf sich aufs Neue mit Þuríð.
Diesmal schickte Snorri einen Sklaven aus, der Björn töten sollte, aber Björn erwischte den Sklaven und ließ ihn umbringen. Es gab eine große Schlacht zwischen den Familien von Björn und Snorri auf dem Eis unter Helgafell. Am Ende verließ Björn Island freiwillig. Er endete in Amerika bei den Skrælingen.«
»Vielleicht hätte dein Vater auch nach Amerika gehen sollen«, sagte Hallgrím.
Benedikt wandte den Blick vom Altar ab und sah Hallgrím in die Augen. »Vielleicht hätte Björn Snorri töten sollen.«
Freitag, 18. September 2009
Magnus nahm die zwei Tassen Kaffee von der Theke und setzte sich gegenüber von Sigurbjörg. Die beiden waren in einem Café auf der Borgartún. Er hatte seine Cousine früh am Morgen angerufen, als sie gerade im Büro eintraf. Sie hatte sich einverstanden erklärt, sich kurz mit ihm zu treffen, bevor ihr Arbeitstag richtig begann.
Magnus war um halb fünf morgens aufgewacht und hatte über das nachgedacht, was Sigurbjörg ihm im April erzählt hatte. Danach hatte er nicht wieder einschlafen können. Verdrängen funktionierte nicht. Er hatte es gehört, nun würde er damit zurechtkommen müssen. Je eher,
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