Magnus Jonson 02 - Wut
bekamen dann beide eine Stelle in der Stadt.«
Der Name kam Magnus bekannt vor. Er erinnerte sich an eine Frau aus der Kindheit, eine nette Blondine, die sie manchmal zu Hause besucht hatte. Die hatte doch Unnur geheißen, oder?
»Du meinst also, mein Vater lernte sie durch meine Mutter kennen?«
»Würde ich sagen.«
»Hat Onkel Ingvar dir auch gesagt, wo sie jetzt wohnt?«
»Offenbar ist sie vor zehn Jahren zurück nach Stykkishólmur gezogen. Sie unterrichtet dort an der Schule. Ihr Mann ist ein Kollege von ihm am Krankenhaus.«
»Danke, Sibba. Vielen Dank.«
»Willst du sie besuchen? Ist vielleicht keine so gute Idee.«
»Weiß nicht. Ich weiß es noch nicht.«
Die Kiste öffnete sich. Die Kiste, in die er die ganzen unangenehmen Erinnerungen gestopft hatte: die vier Jahre in Bjarnarhöfn, die Untreue seines Vaters. Alles drängte jetzt nach draußen.
Magnus konnte den Deckel nicht mehr schließen.
Seit er erwachsen war, hatten Erfahrungen der späteren Jahre sein Leben bestimmt, Erlebnisse aus der Zeit nach dem Umzug nach Amerika. Als Magnus zwanzig war, wurde sein Vater Ragnar in einem Haus ermordet, das er von einem anderen Professor des MIT den Sommer über gemietet hatte. Das Haus stand in Duxbury, einer Kleinstadt am Meer südlich von Boston. Ragnars neue Frau Kathleen war unterwegs gewesen, hatte sich vorgeblich um ein Installationsproblem im eigenen Haus in der Stadt gekümmert. Ollie, wie sich Magnus’ Bruder in den Staaten nannte, war mit seiner Freundin am Strand gewesen, und Magnus selbst arbeitete in den Collegeferien als Kellner in einem Restaurant in Providence.
Jemand hatte das Haus durch die offene Eingangstür betreten, Ragnar zuerst in den Rücken gestochen und dann mit mehreren Stichen in die Brust getötet.
Die Polizei hatte sich bemüht, den Mörder zu finden. Der einzige rechtsmedizinische Beweis war ein blondes Haar gewesen, von dem man eine partielle DNA-Sequenz sichern konnte. Magnus war überzeugt gewesen, dass seine Stiefmutter hinter der Sache steckte, aber es hatte sich herausgestellt, dass sie zu dem Zeitpunkt mit dem örtlichen Klimatechniker im Bett lag. Als die Polizei aufgegeben hatte, setzte Magnus viele lange Stunden daran, das Verbrechen auf eigene Faust zu lösen. Irgendwann war es ihm gelungen, einen geheimnisvollen bärtigen Vogelbeobachter ausfindig zu machen, den man in der Nähe des Hauses hatte herumlungern
sehen. Doch der potenzielle Zeuge hatte nichts gehört oder gesehen, noch stand er in irgendeiner Verbindung zu Ragnar.
Eine weitere Sackgasse.
Magnus hatte nie ganz aufgegeben. Aber er hatte sich immer auf Amerika konzentriert, wo Ragnar keine wirklichen Feinde zu haben schien.
In Island hingegen hatte sein Vater Feinde gehabt. Wenn Hallgrím der Meinung war, dass Ragnar der Grund für das Alkoholproblem seiner Tochter und damit letztlich für ihren Tod war, dann zählte er sicherlich zu den Feinden.
Weshalb Magnus Unnur Ágústsdóttir einen Besuch würde abstatten müssen. Er würde den Deckel der Kiste ein klein wenig weiter öffnen.
»Magnus?«
»Ja?« Er schaute hinab auf eine kleine Frau mit blondem Haar, müdem Gesicht und freundlichem Lächeln.
»Sharon Piper.« Sie hielt ihm die Hand hin, er ergriff sie.
»War der Flug in Ordnung?«
»Durch den Wind war die Landung etwas holprig. Gibt’s auf dieser Insel keine Bäume? Ich dachte, wir wären auf dem Mond.«
»Den GIs wurde vor ihrer Versetzung hierher erzählt, an jeden Baum sei eine blonde Wikingerjungfrau gebunden.«
»Ist das der Grund, warum Sie hergekommen sind?«
»Ich bin gebürtiger Isländer«, sagte Magnus. »Mit zwölf Jahren bin ich in die Staaten gezogen. Doch selbst ich musste mich wieder neu dran gewöhnen. Ist es in Ordnung, wenn wir direkt ins Polizeipräsidium fahren, oder möchten Sie zuerst in Ihr Hotel?«
»Machen wir uns an die Arbeit!«
Als Magnus seine britische Kollegin die dreißig Kilometer lange schnurgerade Strecke vom Flughaven Keflavík nach Reykjavík fuhr, musste er das Lenkrad mit beiden Händen festhalten, so heftig wurde der Range Rover vom Wind geschüttelt.
»Sieht das ganze Land so aus?«, fragte Piper und schaute aus dem Fenster auf das braune vulkanische Gestein.
»Nicht überall«, erwiderte Magnus. »Vor einigen tausend Jahren gab es hier einen gewaltigen Vulkanausbruch. Heute sieht man, wo das Moos sich langsam in die Lava frisst. In einigen tausend Jahren wird es wieder Erdboden werden, und dann wächst auch wieder
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