Magyria 01 - Das Herz des Schattens
ganze Nacht um die Ohren zu schlagen.
Schließlich hielt sie es nicht länger aus und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer war noch Licht. So leise wie möglich nahm sie ihren Mantel vom Bügel und schlüpfte in ihre Schuhe.
Sie spähte zum Wohnzimmer hinüber und hoffte inständig, dass Mónika nicht gerade jetzt auftauchte. Bestimmt schlief sie noch nicht. So langsam, wie es nur ging, drückte Hanna die Türklinke hinunter und trat vors Haus.
Die feuchte, kalte Luft schlug ihr entgegen und ließ sie frösteln. Aber da stand auch schon Mattim vor ihr.
»Komm.« Er nahm sie bei der Hand, aber als sie nach dem Schlüssel für das Tor greifen wollte, schüttelte er den Kopf und zog sie vom Weg herunter, zur Hecke hin.
»Mattim«, flüsterte sie, »was hast du vor?«
Er lachte leise. Dann legte er den Arm um sie und stieg mit ihr in den Schatten.
Sie zuckte zurück, in der Erwartung, dass ihr die Zweige ins Gesicht schlagen würden, doch da standen sie längst auf der Straße.
»Du bist ja verrückt!«, keuchte sie. »Das glaubt mir kein Mensch!«
»Ich wusste, dass es möglich ist, jemanden mitzunehmen«, sagte Mattim. »Auch wenn derjenige selbst kein Schatten ist. Sonst hätte Kunun dich nicht in die Höhle mitnehmen können.«
»Dein Bruder verrät dir mehr, als er will. Das wird ihm nicht gefallen.«
Selbst im matten Pfirsichlicht der Straßenlaternen hatte sein Lächeln etwas Strahlendes. »Nein, ganz und gar nicht. Komm, wir wollen Atschorek noch zu Hause antreffen.«
»Sie ist da? Ich hätte mir eher vorgestellt, dass sie die Nächte in irgendwelchen Bars verbringt und zu den Leuten sagt: Danke, ich hab schon getrunken.«
Mattim seufzte. »Das könnte hinkommen. Normalerweise bricht sie später auf, selten vor Mitternacht. Jetzt haben wir halb zwölf.«
»Schaffen wir das überhaupt?« Hanna hastete neben ihm her. Die Verbindung zwischen dem zweiten und dem zwölften Bezirk war denkbar schlecht. Wer mit dem Bus fuhr, musste mehrmals umsteigen.
»Ich hab uns ein Taxi gerufen.« Er grinste. »Ohne Hilfe. Du merkst, ich finde mich hier langsam zurecht. Siehst du, da ist es.«
»Sparen musst du nicht, wie?«
Die Villa, vor der der Fahrer sie aussteigen ließ, lag ein gutes Stück abseits der Straße. Man konnte nur die Umrisse eines hohen Gebäudes erahnen, das von einem parkähnlichen Grundstück umgeben war.
»Kein Licht«, flüsterte Hanna. »Vielleicht ist sie gar nicht da.«
»Das werden wir gleich herausfinden. Wollen wir?«
Sie nickte. Mattim legte wieder den Arm um sie, als er ins Dunkel vor dem verwitterten Tor tauchte.
»So kommen also die Schatten zu Besuch. Ohne Schlüssel und ohne Klingel.« Scherze halfen nicht wirklich. Die schwarzen Fenster starrten in den verwilderten Garten. Durch die Gerippe der Bäume fuhr ein scharfer Wind und ließ die überfrorenen Zweige rascheln. Hanna fröstelte. Selbst hier, an Mattims Seite, überlief sie ein Schauer. »Sehr einladend ist das Ganze nicht.«
»Möchtest du lieber nach Hause?«
Ja , dachte Hanna. Ja, ja! Aber sie schüttelte den Kopf. »Dann wollen wir mal sehen, ob deine Schwester daheim ist.«
Mattim führte sie die glatten Steinstufen hoch zu einem von zwei Säulen getragenen Vordach. Die breite Haustür darunter war nicht mehr zu erkennen. Wie ein schwarzer Schacht kam ihr die Stelle vor, an der Mattim klopfte.
»Es ist gar nicht so schlimm«, meinte er, »du solltest einmal bei Tage herkommen.«
»Ja«, krächzte Hanna und wünschte sich mehr als alles, dass Atschorek nicht zu Hause war. Dass Mattim sie zurückbringen würde und sie nicht durch diese dunkle Tür gehen musste.
Doch da hörte sie schon Atschoreks sanfte Stimme, ohne dass sie gemerkt hätte, dass jemand geöffnet hatte.
»Sieh an. Unverhoffter Besuch. Das sind die besten Gäste. Du hast deine Freundin mitgebracht, kleiner Bruder?«
»Du kennst Hanna ja schon.«
Atschoreks kühle Hand griff nach ihrer und drückte sie. »Willkommen, Hanna. Bitte schön, mein Haus gehört euch.«
Immer noch konnte Hanna nichts sehen. Sie fühlte sich von der fremden Frauenhand mitgezogen und merkte, dass es etwas wärmer wurde, wenngleich nicht sehr viel.
Atschoreks Stimme flüsterte: »Wartet, ich mache Licht.« Hanna klammerte sich an Mattim. »Lebt sie hier im Finstern?«, wisperte sie.
Einige Meter von ihnen entfernt flammte ein Licht auf, und nun konnte sie Atschorek erkennen, die eine altmodische Öllampe in der Hand hielt. Sie war
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