Magyria 02 - Die Seele des Schattens
unzuverlässigen Bruder. Eine Familiensache. Kunun, Mattim und Bela. Wenn er es richtig verstanden hatte, würde auch Atschorek herkommen und ihnen bei was auch immer helfen.
»Ich hasse diesen Käfig«, sagte Mattim. »Ich sehe keinen Grund, warum ich ihn anfassen sollte. Wieso muss ich ihn irgendwohin schleppen? Nenn mir einen einzigen guten Grund, Kunun, warum ich dabei mithelfen soll, unseren Bruder einzusperren. Außer jenem, dass du es willst.«
Kunun stützte die Hände auf den Käfig. Einen Moment lang erwartete Mattim, er würde ihn anfahren und wieder nach oben schicken. Es war nicht akzeptabel, erst Gehorsam vorzutäuschen und jetzt doch Erklärungen zu verlangen. Aber sein Bruder schickte ihn nicht fort. Sein Lächeln glich nur kurz einem Zähnefletschen, dann wirkte es geradezu mild und verständnisvoll.
»Ich werde dir sagen, warum. Weil du gleich sehen wirst, wie man nach Magyria kommt. Weil du, sobald du es weißt, jederzeit dort hinkannst. Und weil du dir nichts sehnlicher wünschst, als jederzeit nach Magyria gehen zu können. Weil du am Fluss stehen und nach Akink hinübersehen möchtest, auf die Stadt in der Dämmerung, immer noch die Stadt des Lichts. Deshalb. Und deshalb wirst du mir jetzt helfen, Mattim.«
»Das ist keine Erklärung«, murrte er, aber als Kunun den Käfig anhob, fasste er an seiner Seite mit an, ohne weiter zu protestieren. Denn er konnte nicht abstreiten, dass er unbedingt nach Magyria wollte, zurück zu seinem Wald und den Wölfen und der Stadt, an der sein Herz hing. Er versuchte sich zwar einzureden, dass er wieder einmal den Mitläufer spielte, um an Informationen zu gelangen, die ihm im Kampf gegen die Schatten nützlich sein würden. Aber er musste an das denken, was Hanna gesagt hatte: Du weißt nicht, was er von dir verlangen wird. Du weißt nicht, wie tief du in die Dunkelheit hineingehen musst. Wie viel Finsternis darf man in Kauf nehmen, wenn man für das Licht kämpft – und wirst du überhaupt merken, wenn du es auf dem Weg verlierst?
» Ich gehe voraus«, sagte Kunun, machte einen Schritt rückwärts und verschwand. Der Käfig schien in der Luft zu hängen.
Mattim musste ein paar Schritte gehen, bis auch er in die Dunkelheit der Höhle eintauchte, in den vertrauten Geruch nach Gestein und Wolf.
»Stell den Käfig ab«, befahl Kunun. »Und komm. Meinen Part habe ich erfüllt: Du weißt jetzt, wo die Pforte ist. Von dir erwarte ich nun, dass du mir dabei hilfst, Bela in diesen Käfig zu kriegen.«
Mattim biss sich auf die Zunge, um nicht zu fragen, doch er konnte nicht anders.
»Sagst du mir dann, wie du die Pforte geöffnet hast?«
»Ich werde es dir sagen – aber den Zeitpunkt bestimme ich.«
Natürlich. Kunun würde niemals einen Vorteil aus der Hand geben. Mattim seufzte innerlich. Am liebsten hätte er seinen Bruder stehenlassen und wäre einfach gegangen. Im Wald verschwunden, gelaufen wie ein Wolf, leise und schnell und unermüdlich.
Auch in Magyria hatte der Frühling Einzug gehalten, obwohl er hier noch nicht so weit war wie in Ungarn. Es war recht kühl unter der ewigen Dämmerung, und die Knospen an den Zweigen zögerten damit, sich zu entfalten. Nur einige weiße Stellen unter den Wipfeln erinnerten an den fürchterlichen Winter. Obwohl sie noch ein paar Stunden bis zum Tagesanfang hatten, war die Dunkelheit von einer anderen Qualität als in Budapest. Vielleicht lag es an den leuchtenden Sternen über ihnen, aber hier hatte Mattim das Gefühl, als würde das Licht bald hervorbrechen, mit der Macht eines Vulkanausbruchs, strahlend, gleißend, blendend – und wusste doch, dass das nicht geschehen würde. Nur die Dämmerung würde kommen, sanft und grau, hartnäckig wie Nebel, der sich nicht auflösen wollte.
Kunun blieb neben ihm. Es hatte keinen Zweck, fortzulaufen; Mattim war sich sicher, dass der ältere Prinz ihn mühelos einholen würde. Er schloss die Augen, hielt das Gesicht in den sanften Wind, der durch die Bäume strich. Als er sie wieder öffnete, stand Kunun vor ihm.
»Ich habe es bei manchen Schatten gesehen«, sagte er nachdenklich. »Sie fangen an, sich anders zu bewegen. Sie setzen die Füße anders auf. Wenn sie horchen, halten sie den Kopf anders, es wirkt fast, als könnten sie die Ohren bewegen. Man könnte Mitleid mit ihnen haben, wenn sie versuchen, mit dieser stumpfen Nase zu wittern.« Er streckte die Hand aus und strich über Mattims Nasenrücken und über sein Haar, vorsichtig, als würde er ein wildes Tier
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