Mahlstrom
zähflüssig verbrannte es ihre unbedeckten Arme und Beine und stach mit eisigen Nadeln in ihre Weichteile und ihre Schultern, bevor die Taucherhaut unter ihrer Tunika sich um ihre Gliedmaßen legte, um die Lücken zu schließen. Der Behälter mit Vakuum in ihrer Brust saugte alle Luft aus ihrem Innern heraus. Stattdessen strömte willkommenes Eiswasser in sie hinein.
Clarke sank nach unten wie ein Stein. Das wässrige Mondlicht wurde mit jeder Sekunde schwächer; der Druck verstärkte sich. Ihre unbedeckten Gliedmaßen brannten und schmerzten und wurden schließlich taub.
Zu einer Kugel zusammengerollt kam sie auf dem Grund des Sees an. Kies und verrottete Tannennadeln stiegen in einer kleinen Wolke auf.
Sie spürte ihre Arme und Beine nicht mehr, die nun Stück für Stück absterben würden. Ihre Blutgefäße hatten sich sofort zusammengezogen, als sie mit dem Wasser in Berührung gekommen war. Eine automatische Selbstaufopferung, die dazu diente, die Wärme im Körperinnern zu halten. Durch diese zusammengeschnürten Bahnen konnte kein Sauerstoff mehr dringen und auch keine Wärme. Die äußeren Bereiche ihres Körpers erfroren langsam. In gewisser Weise war es sogar ein tröstliches Gefühl.
Sie fragte sich, wie lange sie das wohl durchhalten konnte.
Zumindest war sie diesem verdammten Ungeheuer Gord entkommen.
Wenn er denn wirklich ein Ungeheuer ist. Wie kann ich das beweisen? Er könnte alles wegerklären, schließlich hat ein Vater das Recht, seine Kinder anzufassen …
Aber so etwas wie einen absolut stichhaltigen Beweis gab es nicht. Es gab nur Beweise, die über jeden Zweifel erhaben waren. Und Lenie Clarke hatte es selbst erlebt. Sie wusste Bescheid.
Und das kleine Mädchen, Tracy, wusste es ebenfalls. Sie war dort oben ganz allein. Mit ihm.
Jemand sollte etwas dagegen unternehmen.
Also, was bist du jetzt: Richter, Geschworene oder Vollstrecker?
Sie dachte eine Weile darüber nach.
Wer wäre besser dafür geeignet?
Sie spürte zwar ihre Beine nicht mehr, aber sie gehorchten trotzdem ihrem Befehl.
Mondfinsternis
»Sie ist seltsam«, sagte Tracy, während sie die Spüle aufräumten.
Ihr Papa lächelte. »Sie hat wahrscheinlich viel durchgemacht, Liebes. Eine Menge Menschen haben unter dem Erdbeben gelitten, weißt du, und wenn man leidet, denkt man nicht unbedingt an andere. Ich möchte wetten, dass sie nur ein wenig Zeit für sich braucht. Weißt du, verglichen mit manchen anderen Leuten haben wir ziemlich viel Glück …«
Er sprach den Satz nicht zu Ende. In letzter Zeit geschah das häufig.
Zur Schlafenszeit war Lenie immer noch nicht zurückgekehrt. Tracy zog ihren Schlafanzug an und kletterte zu ihrem Papa ins Bett. Sie lag auf der Seite, den Rücken an seinen Bauch geschmiegt.
»So ist's recht, kleines Limaböhnchen.« Papa schlang die Arme um sie und streichelte ihr Haar. »Schlaf gut, kleines Limaböhnchen.«
Im Innern der Blockhütte war es dunkel und draußen ganz still. Kein Windrauschen, das Tracy in den Schlaf wiegen konnte. Mondlicht fiel durch das Fenster herein und ließ einen Teil des Fußbodens in einem sanften, silbrigen Glanz erstrahlen. Nach einer Weile fing ihr Papa an zu schnarchen. Sie mochte seinen Geruch. Tracys Augenlider wurden schwer. Sie schloss die Augen zu behaglichen Schlitzen und betrachtete das Mondlicht auf dem Fußboden. Beinahe wie ihr »Nermal die Nematode«-Nachtlicht zu Hause.
Zu Hause, wo Mami …
Wo …
Das Leuchten des Nachtlichts wurde schwächer. Tracy öffnete die Augen.
Lenie blickte durch das Fenster herein und verdeckte das Mondlicht. Ihr Schatten verschlang den größten Teil des Lichts auf dem Fußboden. Ihr Gesicht lag ebenfalls im Schatten. Tracy konnte nur ihre Augen sehen. Sie waren kalt und blass und schienen beinahe ein wenig zu leuchten , wie Schnee. Lange Zeit rührte sich Lenie nicht. Sie stand nur dort draußen und schaute herein.
Schaute Tracy an.
Tracy war sich nicht sicher, woher sie die Gewissheit nahm. Sie wusste nicht, wie Lenie mitten in der Nacht in die finsterste Ecke einer dunklen Blockhütte blicken und sie sehen konnte, wie sie mit weit aufgerissenen Augen an ihren Papa geschmiegt dalag. Lenies Augen waren verhüllt. Selbst bei Tageslicht hatte Tracy nicht sehen können, wohin sie blickten.
Doch das spielte keine Rolle. Tracy wusste es: Lenie blickte durch die Dunkelheit. Sie sah sie direkt an.
»Papa«, flüsterte sie. Ihr Vater murmelte etwas im Schlaf und drückte sie kurz an sich, wachte jedoch nicht
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