Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
nun zum Spaß das ideale Schicksal aller meiner Mitschüler ausgemalt und nannte sie hernach im Geist nur noch: ›der Rechtsanwalt‹, ›der Steuerbeamte‹ …
Eine ganze Weile lang versuchte ich auch zu erraten, woran die Menschen meines Bekanntenkreises einmal sterben würden.
Ob man jetzt besser begreift, weshalb ich Arzt werden wollte? Das Wort Polizei bedeutete damals für mich nichts anderes als den Schutzmann an der Straßenecke. Und wenn ich von Geheimpolizei reden hörte, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was es damit auf sich hatte.
Und dann mußte ich plötzlich mein Brot verdienen. Als ich in Paris ankam, konnte ich mir meinen zukünftigen Beruf so gut wie gar nicht vorstellen. Mit meinem abgebrochenen Studium konnte ich kaum auf eine bessere Chance hoffen, als eine Bürostelle zu finden, und mit dieser Einsicht begann ich lustlos die Kleinanzeigen in den Zeitungen zu lesen. Mein Onkel hatte mir zwar vorgeschlagen, bei ihm in der Bäckerei zu bleiben und sein Handwerk zu erlernen, doch er hatte sich umsonst bemüht.
In dem kleinen Hotel auf dem linken Seineufer, wo ich wohnte, hatte sich auf der gleichen Etage ein Mann einquartiert, der meine Neugier erregte. Er mochte um die vierzig sein, und der Himmel mag wissen, weshalb ich fand, er sehe meinem Vater ähnlich.
Äußerlich war er in der Tat so verschieden wie nur möglich von dem blonden, mageren Mann mit den hängenden Schultern, den ich immer nur in Ledergamaschen gesehen hatte.
Er war ziemlich klein, untersetzt, dunkelhaarig. Seine beginnende Glatze suchte er dadurch zu verbergen, daß er das Haar sorgfältig nach vorne kämmte, und die Enden seines schwarzen Schnurrbarts zwirbelte er mit der Brennschere hoch.
Er ging stets in Schwarz gekleidet, sehr korrekt. Er trug einen Überzieher mit Samtkragen, was einen gewissen anderen Überzieher erklärt, ferner einen Spazierstock mit einem massiven Silberknauf.
Ich glaube, die Ähnlichkeit mit meinem Vater beruhte auf seiner Haltung, einer bestimmten Art zu gehen, ohne jemals den Schritt zu beschleunigen, einer Art zuzuhören, zu beobachten und sich dann wieder in sich selbst zurückzuziehen.
Der Zufall wollte es, daß ich ihm in einem Restaurant des Quartiers begegnete, wo Gerichte zu festen Preisen serviert wurden. Ich erfuhr, daß er jeden Abend hier aß, und aus einem unerfindlichen Grund erwachte in mir der Wunsch, ihn kennenzulernen.
Umsonst versuchte ich zu erraten, was er eigentlich tat. Er schien Junggeselle zu sein, denn er wohnte allein im Hotel. Am Morgen hörte ich ihn aufstehen, am Abend zu unregelmäßigen Zeiten zurückkehren.
Nie empfing er Gäste, und ein einziges Mal sah ich ihn in Gesellschaft, als er sich an der Ecke des Boulevards Saint-Michel mit einem Individuum unterhielt, das einen so miserablen Eindruck machte, daß man es im Jargon jener Zeit ohne weiteres als ›Apachen‹ bezeichnet hätte.
Ich war gerade im Begriff, eine Stelle in einer Posamenterie an der Rue des Victoires zu finden. Ich sollte mich am nächsten Tag nochmals vorstellen, ausgerüstet mit Empfehlungen, die ich von meinen ehemaligen Professoren schriftlich erbeten hatte.
An jenem Abend im Restaurant beschloß ich – getrieben von einem unerklärlichen Instinkt –, mich in dem Augenblick, da mein Zimmernachbar seine Serviette in ihr Schubfach zurücklegte, zu erheben, so daß ich an der Tür stand und sie für ihn offenhielt, als er das Lokal verließ.
Er mußte mich bemerkt haben. Vielleicht spürte er, daß ich ihn ansprechen wollte, denn er bedachte mich mit einem forschenden Blick.
»Ich danke Ihnen«, sagte er.
Da ich auf dem Gehsteig stehenblieb, fuhr er fort:
»Gehen Sie ins Hotel zurück?«
»Ich glaube … Ich weiß nicht …«
Es war eine schöne Herbstnacht. Die Quais waren nicht weit, und man sah den Mond über den Bäumen aufgehen.
»Allein in Paris?«
»Ich bin allein, ja.«
Er bat mich nicht, ihn zu begleiten, er nahm es als vollendete Tatsache hin.
»Suchen Sie Arbeit?«
»Woher wissen Sie das?«
Er nahm sich nicht die Mühe, darauf zu antworten, und steckte ein Bonbon in den Mund. Ich sollte bald erfahren weshalb. Er litt an schlechtem Mundgeruch und wußte es.
»Kommen Sie aus der Provinz?«
»Aus Nantes, aber ursprünglich stamme ich vom Land.«
Ich sprach ganz offen mit ihm. Seitdem ich in Paris lebte, war dies eigentlich das erste Mal, daß ich einen Gesprächspartner fand, und seine Schweigsamkeit störte mich nicht im geringsten, wohl weil ich das
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