Maigret und das Schattenspiel
allem sein Testament!
»… ’rein!«
Der Riegel wurde aufgeschoben. Als erstes riß Maigret die Vorhänge auf und öffnete das Fenster ein wenig.
Céline war nicht einmal wach geworden. Roger rieb sich die Augen und gähnte:
»Ach, Sie sind es …«
Es gab Fortschritte. Das Zimmer roch nicht mehr nach Äther. Die Kleidungsstücke lagen in einem Haufen auf der Erde.
»… wollen Sie denn?«
Er setzte sich auf, nahm das Glas Wasser vom Nachttisch und leerte es in einem Zug.
»Man hat das Testament gefunden!« erklärte Maigret, während er Célines nackten Schenkel zudeckte, die mit angezogenen Beinen weiterschlief.
»Und?«
Roger zeigte keinerlei Anteilnahme. Höchstens eine vage Neugier.
»Und? Ein verdammt seltsames Testament! Da wird noch jede Menge Tinte fließen, und die Anwälte werden sich goldene Nasen daran verdienen. Stellen Sie sich vor: Ihr Vater hat sein ganzes Vermögen seinen drei Frauen vermacht!«
Der junge Mann bemühte sich, zu verstehen.
»Seinen drei …«
»Ja! Seiner derzeitigen legitimen Ehefrau. Dann Ihrer Mutter! Und schließlich seiner kleinen Freundin Nine, die noch gestern Ihre Zimmernachbarin war! Er hat seinen Notar beauftragt, dafür zu sorgen, daß alle drei gleich viel bekommen …«
Roger zuckte nicht mit der Wimper. Er schien nachzudenken. Aber wie über eine Angelegenheit, die ihn nicht persönlich betraf.
»Zum Totlachen!« sagte er schließlich mit ernster Stimme, die im Widerspruch zu seinen Worten stand.
»Genau das habe ich gerade auch dem Obersten gesagt.«
»Welchem Obersten?«
»Einem Onkel von Madame Couchet … Er spielt dort das Familienoberhaupt …«
»Muß der dumm aus der Wäsche geguckt haben!«
»Sie sagen es!«
Der junge Mann streckte die Beine aus dem Bett und angelte nach seiner Hose, die über einer Stuhllehne hing.
»Sie scheinen von dieser Nachricht nicht sehr betroffen zu sein.«
»Hören Sie, mir persönlich ist das alles …«
Er knöpfte seine Hose zu, suchte den Kamm und schloß das Fenster, durch das recht kühle Luft hereinströmte.
»Brauchen Sie kein Geld?«
Maigret war plötzlich ernst geworden. Sein Blick wurde schwer, forschend.
»Weiß ich nicht.«
»Sie wissen nicht, ob Sie Geld brauchen?«
Roger sah ihn mit glasigen Augen an, und Maigret fühlte sich ungemütlich.
»Ich sch… drauf!«
»Aber allzu gut haben Sie bisher auch nicht verdient!«
»Ich verdiene überhaupt nichts!«
Er gähnte und betrachtete sich mit düsterem Gesicht im Spiegel. Maigret bemerkte, daß Céline wach geworden war. Sie rührte sich nicht. Sie mußte einen Teil der Unterhaltung mitbekommen haben, denn sie beobachtete die beiden Männer neugierig.
Aber auch sie brauchte erst einmal ein Glas Wasser! Und die Atmosphäre dieses Zimmers mit seiner Unordnung, seinem unangenehmen Geruch und seinen beiden antriebslosen Bewohnern war wie das Symbol einer resignierenden Welt.
»Haben Sie etwas Geld zurückgelegt?«
Roger hatte langsam genug von dieser Unterhaltung. Er suchte seine Jacke, nahm eine dünne Brieftasche heraus, die mit seinem Monogramm geschmückt war, und warf sie Maigret zu.
»Sehen Sie doch selbst nach!«
Zwei Hundertfrancscheine, einige Zeitungsausschnitte, ein Führerschein und eine alte Garderobenmarke.
»Was gedenken Sie zu tun, wenn man Ihnen die Erbschaft vorenthält?«
»Ich will keine Erbschaft!«
»Sie werden das Testament nicht anfechten?«
»Nein!«
Dieses »Nein« hatte einen seltsamen Beiklang. Maigret, der den Teppich fixiert hatte, hob den Kopf.
»Dreihundertundsechzigtausend Francs genügen Ihnen?«
Plötzlich änderte sich die Haltung des jungen Mannes. Er ging auf den Kommissar zu, blieb weniger als einen Schritt vor ihm stehen, so daß ihre Schultern sich berührten, und knurrte, während er die Fäuste ballte:
»Sagen Sie das noch einmal!«
In diesem Moment hatte seine Art etwas Pöbelhaftes, das an Vorstadtkneipen und Schlägereien erinnerte.
»Ich frage Sie, ob die dreihundertsechzigtausend Francs von Couchet Ihnen …«
Er konnte gerade noch rechtzeitig den Arm seines Gegners in der Luft abfangen. Andernfalls hätte er einen der saftigsten Faustschläge seines Lebens eingesteckt!
»Beruhigen Sie sich!«
Dabei war Roger völlig ruhig! Er versuchte nicht, sich loszureißen. Er war bleich, sein Blick starr. Er wartete darauf, daß der Kommissar ihn losließ.
Nur um erneut zuzuschlagen? Céline war jedenfalls entsetzt aus dem Bett gesprungen, obwohl sie halbnackt war. Man sah ihr an, daß
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