Maigret und der Spion
ihrer Flucht in der vergangenen Nacht, und es kostete sie große Überwindung, hinei n zugehen. Victor stand an der Tür, seine Serviette über dem Arm, ein Zeichen, daß kaum Gäste da waren.
»Los!«
»Guten Abend, Messieurs … Sind Sie zufällig Adèle begegnet?«
»Nein. Ist sie nicht da?«
»Noch nicht! Das ist merkwürdig, denn sie ist sonst immer pünktlich. Treten Sie ein … Portwein? … «
»Ja, Portwein!«
Der Saal war leer. Die Musiker machten sich nicht die Mühe zu spielen. Sie plauderten, während sie den Ei n gang im Auge behielten. Der Patron, in weißem Jackett, steckte hinter seiner Bar kleine amerikanische und engl i sche Fähnchen auf.
»Guten Abend, Messieurs!« rief er von weitem. »Wie geht’s?«
»Danke!«
Nun kam auch der Polizist herein. Er war noch jung und hatte einige Ähnlichkeit mit dem zweiten Kanzl i sten. Er lehnte es ab, dem Pikkolo seinen Hut zu übe r lassen, und ließ sich in der Nähe der Tür nieder.
Auf einen Wink des Patrons setzte die Musik ein, worauf der Eintänzer, der ganz hinten im Saal einen Brief geschrieben hatte, auf die einzige bisher anwesende Tänzerin zuging.
»Los, geh!«
Delfosse schob seinem Freund etwas in die Hand, und Jean zögerte, danach zu fassen. Der Polizist be o bachtete sie. Doch das Manöver fand unter dem Tisch statt.
»Mach jetzt! … «
Chabot gab sich einen Ruck und ergriff die schmu d deligen Scheine. Er behielt sie in der Hand, um keine überflüssigen Bewegungen zu machen, und erhob sich.
»Ich muß mal rasch!« sagte er laut.
Delfosse vermochte kaum, seine Erleichterung zu verbergen, und unwillkürlich warf er seinem Beschatter einen triumphierenden Blick zu.
Der Patron hielt Jean auf.
»Warten Sie, ich gebe Ihnen den Schlüssel! Die Toile t tenfrau ist noch nicht da … Ich weiß nicht, was heute los ist, daß alle zu spät kommen.«
Die Kellertür stand halb offen, und von unten kam ein dumpfiger Dunst herauf, der dem jungen Mann e i nen Schauder über den Rücken jagte.
Delfosse kippte seinen Portwein in einem Zug. Er b e kam den Eindruck, daß ihm das guttat, und leerte gleich auch noch das Glas seines Freundes. Der Inspektor blieb ruhig sitzen. Das Manöver hatte also Erfolg gehabt! In wenigen Augenblicken würden die kompromittierenden Banknoten durch die Wasserspülung beseitigt sein.
In diesem Moment trat, in einem schwarzen Sati n mantel mit weißem Pelzbesatz, Adèle ein. Sie rief den Musikern einen Gruß zu und drückte Victor die Hand.
»Nanu!« sagte sie zu Delfosse. »Ist dein Freund nicht da? Ich hab ihn heute nachmittag gesehen. Er kam zu mir. Ein komischer Kerl! Ich leg nur ab!«
Sie ließ ihren Mantel hinter der Bar, wo sie ein paar Worte mit dem Patron wechselte, und kehrte zu dem jungen Mann zurück, um sich neben ihn zu setzen.
»Zwei Gläser … Bist du mit jemand?«
»Mit Jean.«
»Wo ist er?«
»Da hinten … «
Er wies mit den Augen zur hinteren Tür.
»Aha, gut! Was ist eigentlich sein Vater?«
»Er ist Buchhalter in einer Versicherung, glaube ich … «
Sie sagte nichts. Das genügte ihr. So etwas hatte sie sich schon gedacht.
»Warum kommst du nicht mehr mit deinem Auto?«
»Es ist das Auto meines Vaters. Ich habe keinen Fü h rerschein. Deshalb nehme ich es nur, wenn er verreist ist. Nächste Woche fährt er in die Vogesen. Wenn Sie … wenn du Lust hast, können wir einen Ausflug machen … Nach Spa zum Beispiel.«
»Wer ist der Kerl da drüben? … Ist er nicht von der Polizei?«
»Ich weiß nicht … « stammelte er und wurde rot.
»Sein Gesicht gefällt mir nicht … Hör mal, bist du s i cher, daß dein Freund nicht ohnmächtig geworden ist? Victor, einen Sherry! … Möchtest du nicht tanzen? Nicht daß mir daran liegt, aber der Patron schätzt es, wenn ein bißchen Betrieb ist.«
Chabot war schon seit zwanzig Minuten verschwu n den. Delfosse tanzte so schlecht, daß Adèle mitten im Tanz zu führen begann.
»Entschuldige … Ich will mal nach ihm sehen … «
Er stieß die Tür zur Toilette auf. Jean befand sich nicht mehr dort. Dagegen war die Toilettenfrau dabei, ein paar Waschsachen bereitzustellen.
»Haben Sie meinen Freund gesehen?«
»Nein … ich bin eben erst gekommen … «
»Durch die Hintertür?«
»Wie immer.«
Er öffnete sie. Die Seitengasse war verlassen, regennaß und kalt, vom flackernden Licht der einzigen Gaslaterne knapp erhellt.
4
Die Pfeifenraucher
Sie waren zu viert in dem riesigen Raum, in dem die mit Löschpapier überzogenen
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