Maigret und die Tänzerin Arlette
Sébastopol loszuwerden, die ihn in ihren Fängen hatte. Er war zu jener Zeit bereits zweimal wegen Körperverletzung festgenommen worden. Mehrere Jahre war dann nichts mehr über ihn bekannt geworden, bis er in Marseille auftauchte, wo er für mehrere öffentliche Häuser Mädchen anheuerte.
Er war damals achtundzwanzig Jahre alt, und obwohl noch nicht ganz der große Herr, nahm er in dem Dirnen- und Zuhältermilieu doch schon eine so bedeutende Stellung ein, daß er sich nicht mehr in den Kneipen am alten Hafen mit den anderen zu schlagen brauchte.
Obwohl er in eine ziemlich trübe Affäre verwickelt war, ist er nicht verurteilt worden. Es handelte sich dabei um ein erst siebzehnjähriges Mädchen, das er mit falschen Papieren ins »Paradies« in Bezièrs eingeschmuggelt hatte.
Dann folgte wieder eine Zeitlang nichts. Man wußte nur, daß er mit fünf oder sechs Mädchen auf einem italienischen Schiff nach Panama gefahren – und dort sozusagen »jemand« geworden war.
Mit vierzig Jahren war er wieder nach Paris zurückgekehrt, wo er mit Rosalie Dumont, genannt Rosa, zusammenlebte und sich wieder auf dem absteigenden Ast befand. Er betrieb einen Massagesalon in der Rue Martyrs, ging oft zu Rennen und Boxkämpfen und nahm Wetten an.
Schließlich hatte er Rosa geheiratet, und sie hatten gemeinsam das Picratt eröffnet, das ursprünglich ein kleines Lokal gewesen war, in dem lediglich Stammgäste verkehrten.
Janvier war noch immer in der Rue Notre-Dame-de-Lorette, aber nicht in der Wohnung. Er beschäftigte sich damit, die Nachbarn, sowohl die Mieter im Hause, als auch die Inhaber der umliegenden Läden und alle, die irgend etwas wissen konnten, zu verhören. Lucas mußte jetzt ganz allein mit den Ermittlungen wegen des Einbruchdiebstahls in Javel fertig werden, was ihn nicht gerade erheiterte.
Es war zehn Minuten vor fünf. Draußen war es schon längst dunkel, als das Telefon läutete und sich endlich die polizeiliche Rettungsstelle meldete.
»Wegen der Gräfin?« fragte Maigret.
»Ja, eine Gräfin ist’s jedenfalls. Aber ich weiß nicht, ob’s Ihre ist. Wir sind eben aus der Rue Victor-Masse angerufen worden. Die Concierge hat vor wenigen Minuten entdeckt, daß eine ihrer Mieterinnen ermordet worden ist, wahrscheinlich schon in der vergangenen Nacht.«
»Eine Gräfin?«
»Ja, eine Gräfin Farnheim.«
»Erschossen?«
»Erdrosselt. Mehr wissen wir auch noch nicht. Die Polizei aus dem Viertel ist bereits am Tatort.«
Wenige Augenblicke später sprang Maigret in ein Taxi, das eine Ewigkeit brauchte, um durch das Gewühl in der Innenstadt hindurchzukommen. Als er durch die Rue Notre-Dame-de-Lorette fuhr, sah er Janvier gerade aus einem Gemüseladen herauskommen, ließ den Wagen halten und rief den Inspektor heran. »Steig ein. Die Gräfin ist tot.«
»Eine wirkliche Gräfin?«
»Ich weiß es noch nicht. Es ist ganz hier in der Nähe. In diesem Viertel scheint der Teufel los zu sein.«
Es waren kaum fünfhundert Meter von dem Lokal in der Rue Pigalle bis zu Arlettes Wohnung, und ungefähr genauso weit war es vom Picratt bis zur Rue Victor-Masse.
Während am Morgen vor dem Haus, in dem Arlette wohnte, keine Menschenseele zu sehen war, hatten sich hier mindestens zwanzig Neugierige versammelt. Ein Polizist, der vor dem Eingang eines gepflegt und friedlich wirkenden Hauses stand, konnte sie nur mühsam in Schach halten.
»Ist der Kommissar schon da?«
»Er war nicht im Büro. Inspektor Lognon ist…«
Armer Lognon, der sich so gern ausgezeichnet hätte! Jedesmal, wenn er sich auf einen Fall stürzte, wollte es das Schicksal, daß Maigret gerade in diesem Augenblick auftauchte und ihm die Sache abnahm. Die Concierge war nicht in ihrer Loge. Das Treppenhaus hatte einen Anstrich, der Marmor vortäuschen sollte. Auf der Treppe lag ein dicker, dunkelroter Läufer, der durch Messingstangen befestigt war. Es roch ein wenig modrig im Hause, als wohnten in ihm nur alte Leute, die niemals lüfteten, und dazu war es unheimlich still. Nirgends quietschte eine Tür, als Maigret und Janvier vorüberkamen. Erst im vierten Stock hörten sie Geräusche, und gleich darauf tauchte Lognons griesgrämiges Gesicht mit der langen Nase vor ihnen auf. Er sprach gerade mit einer winzig kleinen und sehr dicken Frau, die einen straffen Haarknoten auf dem Kopf trug.
Das Zimmer, das sie betraten, war durch eine Stehlampe mit pergamentenem Schirm spärlich beleuchtet. Hier roch es noch stärker nach Moder und abgestandener
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