Maigret und Monsieur Charles
Hause gekommen?«
»Um nach Hause zu kommen, hätte sie ausgehen müssen.«
»Wenn es Ihnen lieber ist: Wann ist sie ausgegangen?«
»Ich weiß von nichts.«
»Schliefen Sie?«
»Ich sage Ihnen noch einmal, sie ist nicht ausgegangen.«
»Ergeben wie Sie ihr sind, und in Anbetracht des Zustands, in dem sie sich fast jeden Abend befindet, bin ich sicher, dass Sie auf sie warten und sie ins Bett bringen, bevor Sie selbst schlafen gehen...«
Sie war ein recht hübsches junges Mädchen, aber die verstockte Miene, die sie aufgesetzt hatte, passte nicht zu ihr. Scheinbar gleichgültig blickte sie Maigret an.
»Na und?«
»Ich jedenfalls kann Ihnen sagen, dass sie gegen halb zwölf heimgekommen ist.«
»Sie darf doch wohl ein bisschen Luft schnappen, oder?«
»Waren Sie nicht beunruhigt, als Sie sie Weggehen sahen? Sie konnte kaum noch gerade gehen...«
»Haben Sie sie gesehen?«
»Einer meiner Inspektoren hat sie gesehen. Wissen Sie auch, warum sie um diese Zeit ausgegangen ist?«
»Nein.«
»Um von einer öffentlichen Telefonzelle aus zu telefonieren ... Mit wem pflegte sie in den letzten Tagen zu telefonieren?«
»Mit niemandem... Mit ihrem Friseur... Mit Lieferanten ...«
»Ich meine eher private Gespräche... Den Friseur ruft man nicht nachts um elf an, auch nicht den Schneider oder den Schuster...«
»Ich weiß von nichts.«
»Haben Sie Mitleid mit ihr?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil sie das Pech hatte, an so einen Mann zu geraten ... Sie könnte das Leben führen, das ihr zusteht, ein geselliges Leben, sie hätte ausgehen, Freunde empfangen können...«
»Und ihr Mann verwehrte es ihr?«
»Er kümmert sich nicht um sie. Statt dessen verschwindet er manchmal für eine ganze Woche, und jetzt ist er schon über einen Monat weg...« »Wo, denken Sie, hält er sich auf?«
»Bei irgendeinem Mädchen... Er mag nur Mädchen, die er Gott weiß wo aufliest...«
»Hat er Sie gebeten, mit ihm zu schlafen?«
»Das hätte er mal versuchen sollen!«
»Na schön. Rufen Sie mir die Köchin, und während ich mich mit ihr unterhalte, wecken Sie Ihre Herrin und sagen ihr, dass ich sie in etwa zehn Minuten sehen möchte...«
Sie gehorchte widerstrebend, mit einem wütenden Blick, während Maigret Lapointe zuzwinkerte.
Die Köchin Marie Jalon war klein und ziemlich dick und blickte den Kommissar neugierig an, als sei sie höchst erfreut, ihn leibhaftig vor sich zu sehen.
»Setzen Sie sich, Madame. Ich weiß bereits, dass Sie schon sehr lange hier im Haus sind...«
»Vierzig Jahre... Ich war schon zur Zeit des Vaters von Monsieur hier...«
»Hat sich seitdem etwas geändert?«
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Alles hat sich geändert, mein lieber Herr. Seit diese Frau hier ist, weiß man nicht mehr, woran man ist... Es gibt keine Tageszeiten mehr... Gegessen wird, wann es ihr gerade passt... Manchmal isst sie den ganzen Tag nichts, und dann höre ich mitten in der Nacht Geräusche aus der Küche und überrasche sie dabei, wie sie den Kühlschrank durchwühlt...«
»Glauben Sie, dass Ihr Herr darunter leidet?«
»Ganz bestimmt... Er sagt zwar nichts... Ich habe ihn nie klagen hören, aber ich weiß, er ist eben ein Mensch, der sich fügt... Ich kannte ihn schon, als er kaum zehn war und mir immer am Rockzipfel hing... Schon damals war er schüchtern...« »Ihrer Meinung nach ist er also schüchtern?«
»Und ob! Wenn Sie wüssten, welche Szenen er hinnimmt, ohne zu schimpfen und ohne zu wagen, die Hand gegen sie zu erheben...«
»Sind Sie nicht beunruhigt über seine Abwesenheit?«
»Die ersten Tage war ich es nicht... Das ist normal... Ab und zu braucht er eben einen kleinen Ausgleich...«
Maigret lächelte über diesen Ausdruck.
»Ich frage Sie nur, wer Sie benachrichtigt hat... Wenn es nicht Monsieur Lecureur gewesen ist...«
»Nein.«
»Hat Madame Sabin-Levesque Ihnen gesagt, sie sei beunruhigt?«
»Ja.«
»Die und beunruhigt! Da sieht man, dass Sie sie überhaupt nicht kennen... Er könnte vor ihren Augen sterben, ohne dass sie einen Finger rühren würde...«
»Halten Sie sie für verrückt?«
»Eine Säuferin ist sie... Kaum hat sie morgens ihren Kaffee hinuntergeschüttet, fängt sie schon zu trinken an...«
»Haben Sie Ihren Herrn seit dem 18. Februar nicht mehr gesehen?«
»Nein.«
»Haben Sie nichts von ihm gehört?«
»Nichts... Ich muss schon sagen, ich mache mir Sorgen ...«
Madame Sabin-Levesque stand aufrecht und steif an der Tür zum Salon. Sie trug den gleichen
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