Maigret und Monsieur Charles
Morgenmantel wie tags zuvor und hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich mit dem Kamm durch die Haare zu fahren.
»Sind Sie zu mir gekommen oder zur Köchin?« »Zu beiden...«
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung...«
Sie führte die beiden Männer wie am Vortag in ihr Boudoir. Eine Flasche Cognac und ein Glas standen auf einem silbernen Tablett.
»Ihnen brauche ich wohl nichts davon anzubieten?«
Maigret schüttelte den Kopf.
»Was wollen Sie diesmal von mir?«
»Ihnen eine Frage stellen, zunächst einmal. Wo sind Sie gestern Abend gewesen?«
»Ja, ich weiß es schon von meiner Zofe, dass Sie mich überwachen lassen. So erspare ich mir eine Lüge. Ich fühlte mich nicht wohl und bin hinausgegangen, um frische Luft zu schnappen. Als ich eine Telefonzelle sah, kam ich auf die Idee, eine Freundin anzurufen...«
»Sie haben Freundinnen?«
»Es mag sie erstaunen, aber so ist es...«
»Darf ich den Namen der Freundin erfahren, die Sie angerufen haben?«
»Das hat nichts mit Ihnen zu tun, und deshalb werde ich Ihnen nicht antworten.«
»War diese Freundin nicht zu Hause?«
»Woher wissen Sie das?«
»Sie mussten drei verschiedene Nummern anrufen...«
Sie sagte nichts und trank einen Schluck Cognac. Sie fühlte sich nicht wohl. Das Aufwachen am Morgen musste schlimm für sie sein, und nur der Alkohol vermochte sie einigermaßen auf die Beine zu bringen. Ihr Gesicht war aufgedunsen. Die Nase wirkte länger und spitzer als sonst.
»Dann eben eine ganz andere Frage. Die Schubladen im Privatbüro Ihres Mannes sind abgeschlossen. Wissen Sie, wo sich die Schlüssel dazu befinden?« »In seiner Tasche, nehme ich an. Ich habe nie in seiner Wohnung herumgekramt.«
»Wer war sein bester Freund?«
»Zu Beginn unserer Ehe kam der Anwalt Auboineau mit seiner Frau ziemlich häufig zum Abendessen... Sie haben zusammen studiert...«
»Jetzt sehen sie sich nicht mehr?«
»Weiß ich nicht... Jedenfalls kommt Auboineau nicht mehr hierher... Ich konnte ihn nicht leiden. Er ist ein eingebildeter Mensch, der unablässig redet, als würde er im Gerichtssaal plädieren... Und was seine Frau betrifft...«
»Ja?«
»Ach, egal. Sie ist mächtig stolz auf das Schloss, das sie von ihren Eltern geerbt hat...«
Wieder trank sie.
»Dauert es noch lange?«
Man sah ihr an, dass sie müde war, und Maigret hatte ein wenig Mitleid mit ihr.
»Ich stehe wohl immer noch unter der Überwachung eines Ihrer Männer?«
»Ja. Für heute Vormittag bin ich fertig... Maigret winkte Lapointe, ihm zu folgen.
»Auf Wiedersehen, Madame.«
Sie gab keine Antwort, und die Zofe wartete im Salon auf sie, um sie in die Halle und dann zur Treppe zu führen.
Im Erdgeschoß ging Maigret unter dem Torbogen hindurch in die Kanzlei hinüber und verlangte Monsieur Lecureur zu sprechen. Dieser kam den beiden Polizisten schon entgegen und bat sie in sein Büro.
»Haben Sie Neuigkeiten?« fragte er.
»Nichts wirklich Neues. Soviel wir wissen, war die letzte, die Ihren Chef gesehen hat, eine Animierdame aus dem Cric-Crac in der Rue Clêment-Marot. Als er sie verließ, sollte er sich in die Avenue des Ternes begeben, wo eine junge Frau auf ihn wartete... Das war mitten in der Nacht des 18. Februar... In der Avenue des Ternes ist er nicht erschienen...«
»Vielleicht hat er es sich unterwegs anders überlegt?«
»Mag sein... Sind Sie sicher, dass er Sie seit über einem Monat kein einziges Mal angerufen hat?«
»Kein einziges Mal.«
»Während er sich bei seinen früheren Ausflügen telefonisch mit Ihnen in Verbindung setzte?«
»Alle zwei, drei Tage, ja. Er war sehr gewissenhaft. Vor zwei Jahren kam er einmal Hals über Kopf zurück, weil wir eine Unterschrift von ihm benötigten...«
»Was hatten Sie für ein Verhältnis zu ihm?«
»Ein sehr herzliches... Er hatte vollstes Vertrauen zu mir...«
»Wissen Sie, was er in den Schreibtischschubladen droben aufbewahrte?«
»Das weiß ich nicht. Ich ging selten nach oben und habe die Schubladen nie offen gesehen.«
»Haben Sie die Schlüssel gesehen?«
»Oft. Er hatte einen Schlüsselbund, den er immer bei sich trug. Daran befand sich unter anderem auch der Schlüssel zu dem großen Safe im Schreibbüro, den Sie sicherlich gesehen haben...«
»Was enthält er?«
»Die vertraulichen Dokumente unserer Klienten, insbesondere die Testamente...«
»Haben Sie auch einen Schlüssel dazu?«
»Selbstverständlich.«
»Und wer sonst noch?« »Niemand.«
»Gibt es Angelegenheiten, die der Notar selbst
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