Makroleben
Schrecken. Irgendwann würde auch Lea wieder besucht werden; war er aber dazu bereit, so lange zu warten – Jahrzehnte, ein Jahrhundert? Wie lange konnte er ohne das medizinische Versorgungssystem der Heimat überleben? Falls er sich zum Bleiben entschließen sollte, mußte er Projex dazu überreden, sowohl für ihn selbst als auch für die Dorfbewohner eine medizinische Erziehungsstation aufzubauen. „Ein bißchen Hilfe birgt soziale Gefahren“, hatte Frank Blackfriar gesagt. „Wenn man alles richtig zum Laufen bringen will, muß man dafür Zeit verwenden. Bist du dazu bereit? Geh hin und schau es dir selbst an, wie es auf einem Planeten aussieht – dann bekommst du auch heraus, wer du wirklich bist.“
John holte tief Luft und schmeckte den Geruch des staubigen Steppengrases, den der Wind von der Ebene hertrug, einem Wind, der den Winter versprach und sich in den Geruch des frischen Grün von den Hügeln mischte. Die Natur war hier oft ein Feind, bestenfalls aber ein machtvoller Freund, den man trotzdem im Auge behalten mußte. In der Heimat war die planetarische Natur ein Gegenstand der Liebe und Pflege, ein Stück aus der Vergangenheit des Bewußtseins, das aus ästhetischen Gründen erhalten worden war und tief vergrabene Bedürfnisse ansprach. Die unkontrollierte Natur war der galaktische Weltraum, das Rad von Sonnen, Gas und Trümmern, in dessen Bereich von Größenordnung und Zeitlosigkeit das Makroleben in jüngerer Zeit vorgestoßen war.
Er sah auf den gewundenen Pfad hinunter, der sich zu dem Felsen hochschlängelte, und erkannte Anulka, die auf ihn zukam. Sie sah nach oben. Ihre blauen Augen waren weit geöffnet, und der aufkommende Wind brachte ihr Haar zum Rattern. Sie ging mit der Grazie eines Tiers und trat mit ihren Stiefeln fest auf den ausgetretenen Weg. Ihr grobes schwarzes Hemd wurde an der Hüfte durch einen Lederriemen zusammengehalten. Er kannte jeden Muskel unter diesem Hemd. Er kannte ihre Gerüche und wußte, wie sie beim Küssen schmeckte. Sie gehörte ebenso zur Landschaft wie die Bäume, die sich mit ihren Wurzeln an dem Hügel festklammerten, die vierfüßigen Kreaturen, die durch Wald und Steppe schlichen, die geflügelten Wesen, die auf dem Wind ritten und die hohen Berge verspotteten. Ich kenne sie überhaupt nicht, sagte er zu sich selbst.
Ihr Fleisch war im Gegensatz zu seinem durch das Protein lebender Wesen ernährt worden, während er mit perfekten Nahrungsmitteln aufgewachsen war. Sein Körper hatte nicht mit den Giften von Tieren und Pflanzen zu kämpfen gehabt und seine Systeme dadurch ermüdet, daß sie fremde Stoffe in verwendbares Material umzuwandeln hatten. Alle Lebensmittel der Heimat waren leicht assimilierbar. Sein Körper mußte sich nie sehr anstrengen und hielt daher auch ohne Verjüngung viel länger als bei den Bewohnern einer natürlichen Welt.
Anulka drehte ihr Gesicht aus dem Wind und verschwand aus seiner Sicht hinter einer Reihe von großen Felsen. Sie blieb jetzt für ihn unsichtbar, bis sie hinter ihm bei dem Felsen auftauchte. Er erinnerte sich noch daran, wie schlecht es ihm gewesen war, nachdem er das gebratene Fleisch gegessen hatte, das sie bei seiner Ankunft zubereitet hatten. Sie war von seiner Erklärung entsetzt gewesen und hatte ihn damit gezwungen, eine viel einfachere zu erfinden, um sie zu beruhigen. Die Vorstellung einer chemischen Identität von Nahrungsmitteln und Fleisch der Makrobewohner wäre als Kannibalismus ausgelegt worden.
Blackfriar hatte Vorräte für ein halbes Jahr heruntergeschickt, die nun eine Wand der Hütte bedeckten. Anulka sah dann und wann auf die Pakete, aber sie wollte nie davon versuchen. Es war unmöglich, ihr die Vorstellung auszutreiben, daß ihr von seinem Essen schlecht würde, weil ihr Essen so auf ihn gewirkt hatte.
Er hörte, wie sie den Pfad direkt hinter dem Felsen hochkam. Er stand auf und ging zu dem Mittelpunkt der Felsplatte zurück. Sie kam zu ihm, legte ihre Arme um seine Hüften und drückte ihr Gesicht in den Pelz seiner Jacke.
„Bald gehst du weg“, sagte sie, ohne ihren Kopf zu heben. Die Laute ihrer von der Erde abstammenden Sprache schienen gegen die schwarze Felswand zu vibrieren und verliehen ihren Worten die Endgültigkeit einer Verkündigung. Als er ihr nicht antwortete, drückte sie ihn rauh. Schließlich ließ sie ihn los und fragte: „Warum bin ich nicht schwanger?“ Sie trat zurück und sah ihn an. Ihr Blick erniedrigte ihn. „Du sorgst dafür, daß das nicht
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