Mala Vita
verstehen, dass ich mich der brotlosen Literatur zugewandt habe.«
Carlo seufzte vernehmlich. »Verstehen beruht auf der Grundannahme, dass der andere recht haben könnte. Doch der Mensch irrt, jeder auf seine Weise und mancher sogar vorsätzlich.«
Cardone lachte freudlos. »Da kannst du recht haben. Mein Bruder hat vermutlich nur sich selbst verstanden. Wir waren vollkommen verschieden in unseren Ansichten. Ehrlich gesagt, es überrascht mich wirklich, dass Enrico mir einen Brief geschrieben hat. Das hat er zuvor noch nie getan.« Er stand auf, holte die Kiste ins Zimmer und beförderte einen handbeschrifteten braunen Briefumschlag zutage. Er legte ihn bedächtig vor sich auf den Tisch und betrachtete ihn wie einen Fremdkörper. Der Schein einer altertümlichen Stehlampe tauchte das spartanisch eingerichtete Zimmer in ein warmes Licht. Cardone starrte auf die Handschrift seines Bruders. Die schwungvollen Züge, leicht schräg gestellt und in Großbuchstaben, waren mit blauer Tinte geschrieben. Sie strahlten Kraft und Willen aus. Cardone gab sich einen Ruck, schob einen Zeigefinger unter die Lasche und riss das Kuvert auf. Vorsichtig, als befürchte er, sie zu beschädigen, faltete er die Seiten auseinander.
»Lies vor!«, drängte Carlo, der es vor Spannung kaum aushalten konnte.
Cardone strich die Briefbogen glatt und begann leise:
Mein lieber Roberto,
wenn Du diesen Brief in Deinen Händen hältst, bin ich nicht mehr am Leben. Ohne pathetisch zu sein: Du sollst wissen, dass ich Dich insgeheim immer bewundert habe. Es ist bedauerlich, dass wir nie haben zusammenfinden können, zu unterschiedlich war unser Leben angelegt, zu verschieden waren unsere Ziele, zu unterschiedlich waren wir selber. Du bist Dir treu geblieben, was mir nicht gelungen ist, und manchmal habe ich Dich um Dein Leben beneidet. Als Anwalt habe ich stets geplant, alles durchdacht und Risiken vermieden. Du dagegen bist der Träumer, der sich himmlische Oasen zaubert und sie den Menschen in der Wüstenei der Erde als Paradies verkauft. Der Realist hat verloren! Ich hatte vergessen, dass die Menschen in Wahrheit lieber träumen als um Karriere, Erfolg und Geld zu kämpfen.
Wer nimmt, der verkauft sich! Ich habe das zu spät bemerkt und dafür bezahlt. Man hat mir die Rechnung präsentiert, als ich dachte, bis ans Ende meines bis ins Detail organisierten Lebens ausgesorgt zu haben. Nun kam alles anders. Versuche nicht zu verstehen, dass ich jetzt wenigstens für Dein Leben sorgen will, nachdem es für meines nicht gelang.
Im Anhang findest Du die Adresse der IBA , die International Bank of Antigua. Dort habe ich ein Konto eingerichtet und Dich als meinen Erben dafür bevollmächtigt. Es handelt sich um ein Passwortkonto, über das Du nur verfügen kannst, wenn Du persönlich dort vorsprichst. Du wirst also nach Antigua fliegen müssen. Das Passwort ist der Name unseres Hundes, der uns in unseren Jugendjahren ein ständiger Begleiter war.
Vielleicht mache ich mich mit diesem Vermächtnis schuldig an Dir, ich weiß es nicht. Aber Du bist stärker als ich, weil ich mit der Illusion lebte, mit Hilfe meines Verstandes allem gewachsen zu sein. Du dagegen hast immer geträumt. Heute weiß ich: Träume sind realisierbar – Illusionen nicht. Wie Du das Geld verwendest, liegt in Deiner Hand. Damit kannst Du Deine Träume wahr machen.
Wenn Du Dich nicht unglücklich machen willst, sprich mit niemandem über mein Vermächtnis außer mit meinem engsten Freund in Saint John’s auf Antigua. Er heißt Sir Edwin Ghallager, ist Mitglied des Parlaments und des Kabinetts des Premiers von Antigua und gleichzeitig Vorsitzender des Verwaltungsrates der IBA . Seine Adresse findest Du ebenfalls im Anhang.
Ich habe diesem Schreiben ein Testament beigefügt, in dem ich Dich als Alleinerben einsetze. Du kannst es dem Nachlassgericht vorlegen.
Im Banksafe auf Antigua befindet sich ein Notizbuch mit wichtigen Aufzeichnungen. Solltest Du in Schwierigkeiten geraten, übergib es dem Generalstaatsanwalt Dottore Silvio Santapola im Justizministerium in Rom. Und nur ihm! Denn lediglich er kann und wird Dir im Notfall helfen.
Ich weiß nicht, was Du mit unserem Elternhaus und dem Kanzleigebäude machen möchtest. Ich lege die Entscheidung hierüber in Deine Hand.
Ich will meinen Brief mit einem letzten Gruß an Dich enden, in der Hoffnung, dass ich Dir dennoch etwas bedeutet habe.
Dein Bruder Enrico
Cardone blickte auf das Datum des Briefes. »Er hat ihn zwei Tage vor
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