Malefizkrott
Wanderstiefeln und ohne Unterkunft – rief Lolas Vater an. Lola lauschte mit verwundertem Blick, gab kurze Antworten und ließ schließlich das Telefon sinken.
»Ich bin nominiert!«
»Wofür?«
»Für den Deutschen Literaturpreis für das beste Romandebüt in Frankfurt. Sagt mein Vater gerade. Morgen steht es in der Zeitung. Ich soll heimkommen, wegen der Interviewanfragen. Aber ich will keine Interviews geben. Das ist total öde. Die fragen immer dasselbe.« Sie lachte. »Früher dachte ich immer, die Journalisten würden fra gen: Was wollten Sie mit Ihrem Roman aussagen? Und dann würde ich irgendwas Geschwollenes daherreden. Das habe ich mir abends im Bett immer ausgedacht, noch be vor ich richtig angefangen hatte zu schreiben. Aber sie fragen eigentlich alle nur: Was heißt Malefizkrott? Wie kommen Sie auf Ihre Ideen? Und natürlich: Wie lange schreiben Sie an so einem Buch?«
Kichernd und fußmüde schlurften wir die Promenade entlang. Ein Zeppelin hing brummend über uns, hob die Nase, dann das Heck, schaukelte hin und her und schüttel te die Leute in der winzigen Gondel unterhalb des dicken Bauchs durch.
»Die Zeppeline sehen alle aus, als ob sie Berta hie ßen«, sagte Lola. »Sie tragen einen weißen Flaus und sind mit Schrot zu schießen.«
»Das klingt nach was«, bemerkte ich.
»Morgenstern, Morgenstern«, trällerte sie und hüpfte wie ein kleines Mädchen am Geländer entlang. Beinahe hätte sie einen älteren Mann angerempelt, der mit Blick aufs Schwäbische Meer, die Hände aufs Ufergeländer gestützt, eine Zeitung las, die der Wind zauste.
Ich ging gesetzteren Schrittes durch die abendlichen Promenadenbummler. Als ich den Mann mit der Zeitung passierte, wandte Cipión plötzlich den Kopf und schnüffelte kurz an seinem Hosenbein hinauf.
Der Mann schien es nicht zu merken. Er schaute jedenfalls nicht, und das, obgleich Cipións schlappohrigem Charme, seinen herausfordernden braunen Augen und der wie lackiert glänzenden Schnüffelnase kaum ein Mensch widerstehen konnte.
Erst nach ein paar Schritten nagelte es mich. Das ist er!
Ich trat fünf Meter entfernt von ihm ans Geländer. Aber sein Gesicht konnte ich nicht sehen, nur eine ziemlich faltige Partie vom Ohr bis zum Kiefer. Er war nicht dick, nicht einmal wirklich massig, aber auch nicht schlank. Er trug eine schlabbrige braune Cargohose, sehr alte Sportschuhe, ein beigefarbenes T-Shirt und auf dem Kopf eine Baseballkappe.
Cipións olfaktorisches Interesse galt längst wieder anderen Gerüchen, aber ich starrte den Mann, der eisern seine Zeitung in den Wind hielt, unverwandt an. Kein normaler Mensch hält das aus, wenn er sich nicht irrsinnig am Riemen reißt.
Lola kam zu mir zurück und frage: »Was ist?«
Ich antwortete: »Das ist er!«
»Wer?«
»Der da!«
»Der mit der Zeitung?«
»Ja.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil er uns nicht anschaut, obwohl er weiß, dass wir über ihn reden. Außerdem hat Cipión ihn erkannt.«
»Wie?«
»Er kennt seinen Geruch. Er hat die Stelle beschnüffelt, wo er am Max-Eyth-See auf den Mann aus dem Waffenladen geschossen hat. Er hat ihn wiedererkannt, als ich mit ihm eben an ihm vorbeiging. Normalerweise schnüffelt er Leuten auf der Straße nicht am Hosenbein. Das tut er nur, wenn ihm jemand nicht völlig fremd ist.«
»Meinst du?« Ich hörte an Lolas Stimme, dass ihr das Herz bis zum Hals klopfte. »Und was machen wir jetzt?«
Ich löste mich vom Geländer und ging auf den Mann zu. Er faltete die Zeitung zusammen, wandte sich ab und ging los.
»He!«, rief ich. »Entschuldigen Sie!«
Andere drehten sich um, aber nicht er.
Lola huschte mir nach und packte mich am Arm. »Bist du wahnsinnig?«, flüsterte sie.
Ich drückte ihr Cipións Leine in die Hand, beschleunigte meinen Schritt und wechselte dabei von der Geländerseite auf die Seite mit den Cafés und Souvenirläden. Er ging inzwischen ziemlich zügig. Ich stolperte durch die Tische des Cafés Venezia. Er gewann den Platz mit den Wasserspielen, in denen Kinder herumrannten, und wandte sich nach rechts, passierte den Spitalkeller und bog in die Fußgängerzone ein. Ich folgte ihm. Mag sein, dass er mich im Spiegel einer Schaufensterscheibe sah und es für aussichtslos hielt, zu entkommen, denn urplötzlich drehte er sich um.
»Ja, bitte?«, fragte er mit einer heiseren Stimme.
Vor mir stand ein alter Mann. Und trotzdem erkannte ich ihn. Das heißt, ich wusste, dass ich ihn kannte. Nur dass mir sein Gesicht nichts sagte.
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