Malefizkrott
hen den rauskündigen wollen. Das wird alles abgerissen. Da soll eins von den Einkaufszentren her!«
»Aber doch nicht hier, sondern oben an der Paulinenbrücke!«
»Ich sag immer, wer soll so viel kaufen! Aber schee isch das hier auch net.«
Es hatte Retrocharme, wie der Bahnhof. »Und Ur sprung wollte nicht raus aus dem Haus?«
»Der Jong, der hätt schon wollen. Laufkundschaft gibt’s hier net. Und die paar Leut, wo sich noch erinnern. Ich habe mich immer gefragt, wovon die leben. Da ist ja keiner mehr reingegangen. Aber nun ist der Alte alle Sorgen los. Wenn der Jong da mal nicht nachgeholfen hat. Der Alte soll ja Vermögen gehabt haben. Übrigens, Ihr Hundle hot da ebbes.«
»Pfui!«, schrie ich.
Cipión röchelte an meiner Leine. Aber noch kaute er nicht. Er schnüffelte nur mit Giraffenhals rattensehnsüch tig in einen Rinnsteingulli. Ich gab ihm Leine. Ein Stock. Na ja.
»Schön’n Tag noch«, hatte der Passant gewünscht und war weitergezogen.
»Ich habe im Rinnstein vor Ursprungs ausgebranntem Laden einen Stock gefunden«, sagte ich jetzt über den Tisch zu Richard. »Ungefähr so lang wie mein Unter arm.« Er steckte jetzt in der Satteltasche meines Fahrrads, am nächsten Laternenmast. »Mit dem Rest eines Fadens daran.«
»Hm«, machte Richard.
Der Mann in Shorts, Socken und Sneakers hatte mittlerweile die drei Tische und Stühle vor dem Tauben Spitz erreicht. Auf die Straße, auf der seine Freundin kibbelte, mochte er offenbar nicht ausweichen. Richard zog seine italienisch beschuhten Füße ein.
Ich ließ meine Beine ausgestreckt.
Die Stadt machte Krach um uns herum, vom Gartenlokal am Schellenturm hallte Gelächter, vermutlich hatte die etwas harsche Bedienung wieder mal jemanden abgekanzelt, der vorlaut bestellt hatte, irgendwo knallte eine Tür, auf einer der uns umschwärmenden Straßen drehte ein Motor voll auf. Und der Mann in Shorts und Sportschuhen trat auf die Straße hinunter und ergriff die Hand seiner Freundin.
Richard entspannte sich. »Übrigens. Über Lola Schrader und ihr Buch steht heute ein halbseitiger Artikel in der Süddeutschen .«
Das hatte Lola mir am Nachmittag auch erzählt. Ihr Vater habe sie von der Hochschule aus angerufen, sie kenne den Artikel aber noch nicht, er bringe ihn am Abend mit.
»Und was schreibt die so?«
Richard griff sich ins Jackett, zog die Lesebrille her vor, entfaltete ein Zeitungsblatt und las vor: »Lola Schrader hat es geschafft, die angestrengten Attitüden aufgeklärter Gleichgültigkeit zu entlarven, sie hat all das, was schon hundert Mal gedacht und gesagt worden ist, aufgesogen, gebündelt und in etwas Neues, Unerhörtes verwandelt, in eine Literatur, die nicht trotz, sondern wegen ihrer Brutalität und Vulgarität schön ist.« Sein Blick sprang weiter. »… die ein Deutsch schreibt, das es noch nie gab: maßlos zynisch wie Fritz Teufels Flugblätter, unerträglich aufrichtig wie ein Bekenner, schwebend und hämmernd durch alle Register der Hoch- und Straßensprache, maßlos individuell …«
»Hui!«
Richard faltete das Blatt wieder ins Jackett zurück.
»Lolas Vater glaubt, dass der Brandanschlag auf Ursprungs Laden seiner Tochter gegolten hat.«
Richard zog unwirsch die Brauen hoch. »Und dass Durs Ursprung erschossen wurde, auch?«
»Bei der Lesung gestern in Tübingen hat jemand eine tote Taube gegen die Fensterscheibe geworfen.«
»Du warst bei dieser Lesung?«
»Michel Schrader hat mich als Bodyguard zum Schutz seiner Tochter engagiert.«
Richard runzelte die Stirn. »Wenn er seine Tochter bedroht sieht, sollte er sich unverzüglich an die Polizei wenden. Die haben die geeigneten Mittel für den Personenschutz.«
»Habe ich ihm auch gesagt. Aber er ist sich nicht sicher gewesen, ob es nicht doch nur ein Scherz ist. Und zu Recht. Denn die Drohbriefe haben Lola und ihr Schulfreund Nino selbst verfasst, um einen anonymen Mailversender auszuprobieren. Nino bestreitet energisch, das Feuer in Ursprungs Laden gelegt zu haben, und für gestern Abend hat er ein Alibi. Er hat die Taube also nicht geworfen. Außerdem ist schwer zu entscheiden, ob die Aggression dem Frauenbuchladen und der geschlossenen Gesellschaft galt oder der Lesenden, nämlich Lola. Und beim Brand in Ursprungs Laden ist es genauso. Aber dass Lola zweimal dabei war, ist komisch. Und ich kann nur hoffen, dass die Besitzerin von Thalestris, sie heißt Manuela Kantor …« Eine Welle von Panik flutete mich völlig unvermutet. »… nicht auch erschossen
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