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Malenka

Malenka

Titel: Malenka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Korschunow
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man mit jedem Gedanken gegen Mauern stieß. Frau Dobbertin hatte ihr zum Geburtstag den gesamten, bei einer Kundin gegen Fett eingetauschten Fontane geschenkt, dazu noch einige Bände Thomas Mann, dessen geächteten Namen niemand im Haus kannte. Die Gerda Buddenbrook mit der Geige, Effi Briest, die schöne Melusine. Margot schlüpfte in sie hinein, aber es reichte nicht, dieses Spiel, auch fremde Häuser und Parks reichten nicht mehr. In Mellenthin war Krieg, derselbe Krieg wie überall. Dennoch, wenn sie die Augen schloß, sah sie ein Loch im Zaun. Usedom, die Insel, Wasser und Wald, Badeorte mit Namen wie Heringsdorf, Zinnowitz, Bansin, das Meer, sie würde endlich das Meer sehen.
    »Fort von der lieben Vaterstadt?« hatte der alte, schon etwas tüdelige Heese gefragt. »Sind Sie da nicht traurig?«
    Trauer? Nein, keine Trauer. Pyritz mit den tausend Augen und Ohren und den Fingern, die auf sie gezeigt hatten, endlich sollte es seine Macht verlieren, obgleich ihr bei diesem Abschied der Blick vom Wall, weit über die Tore, Türme und Giebel der Stadt, schöner erschien als jemals sonst. Doch als sie zum Markt kam, lag er wie eine ausgediente Kulisse da, verschwunden die Bäuerinnen mit ihren Eier- und Obstkörben, die bunten Buden, auch die Leierkastenjule und ihre Lieder. Einen Moment noch blieb sie vor dem Möllerschen Haus stehen, Möllers, die es ebenfalls hier nicht mehr gab. Lore war gleich nach dem Abitur mit ihrer Mutter nach Dessau gezogen, und dort, wurde erzählt, habe Frau Möller sich das Leben genommen, Näheres wußte man nicht. Margot wandte sich ab und ging zum Portal von St. Mauritius. Sie wollte etwas anderes mitnehmen für die Erinnerung, das Bild vom Langschiff und wie das Licht durch die Seitenfenster fiel. Doch die Kirche war verschlossen um diese Zeit.
    Dann kam der letzte Abend. Vorläufig der letzte, meinte Margot, und Anna Jarosch gab vor, daran zu glauben, wenn auch anzunehmen ist, daß etwas in ihr es anders wußte. Der Tisch war abgeräumt, das Geschirr gewaschen, der Koffer, ehemals Eigentum des Kellners Ludwig Müller, Hedwigs bei Verdun gefallenem Ehemann, gepackt, Sommersachen, Wintersachen, darunter eine Lage Bücher. Sie saßen auf dem Sofa, dicht nebeneinander wie früher zur Dämmerstunde, bei den alten Geschichten von Geburt und Tod und Tausendundeiner Nacht. Auch heute brannte kein Licht, schon spät, aber es blieb lange hell in den Frühsommernächten.
    »Gehst du nun«, sagte Anna Jarosch. »Und wer macht erste Schritt, macht auch zweite.«
    »Ich komme bald wieder her«, sagte Margot. »Im September, zu deinem Geburtstag.«
    Anna Jarosch sah aus dem Fenster, wo die Umrisse der Ziegel auf Bäcker Manzigs Dach sich allmählich auflösten.
    »Wollte ich immer gut machen für dich, Malenka. Sollst du wissen.« Margot schlang die Arme um sie, der warme Körper ihrer Großmutter, Trost, Halt, Hilfe, und fing an zu weinen, weil sie die spitzen Schulterknochen spürte und den mageren Rücken und nichts mehr war wie früher und nie wieder so sein würde. »Ich hab’ dich lieb, Großmutter«, viel zu lange hatte sie es nicht gesagt.
    Anna Jarosch nickte. »Werde ich behalten in Herz. Bist du gute Mädchen geblieben und immer Freude für mich. Aber sollst du aufpassen vor Hochmut.«
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte Margot.
    »Mache ich mir Sorgen, solange ich lebe«, sagte Anna Jarosch. »Und werde ich bitten Gott in Sterbestunde, soll er machen gut für dich.«
    Eine Weile saßen sie noch da, bis zuletzt ohne Licht, weil die Verdunkelungsrolle einen Riß hatte und Wilhelm Maschulke, der Luftschutzwart, unten auf der Lauer lag. Dann gingen sie zu Bett, nebeneinander, so war es gewesen bisher, und jetzt war es vorbei.

    Am nächsten Nachmittag, früher als angenommen, erreichte Margot das Dorf Mellenthin. Wenige Bauernhöfe, die Kirche, die Gastwirtschaft, ein Laden, mehr nicht, dreihundert Menschen höchstens, die dort wohnten, und etwas abseits, vom Park des ehemaligen Gutes umgeben, das Kriegshilfsdienstlager für hundertzwanzig Mädchen. Die Verwaltung, die Küche, der große Eßsaal, die Zimmer der Führerinnen befanden sich in dem alten Herrenhaus, immer noch Schloß genannt, mit der zerbröckelnden Freitreppe, den hohen Fenstern, der von Efeu überwucherten Fassade, während die Mädchen in eigens zu diesem Zweck errichteten Baracken schliefen, deren braune Farbe auch schon langsam verwitterte. Die Arbeitsstätte dagegen, das Marinearsenal mit den zur Tarnung im Wald

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