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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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spricht. Ich beuge mich so weit vor, daß ich mit dem Ohr beinahe seinen Mund
     berühre, und jetzt verstehe ich: Thomas will mit dir reden. Da ich gerade stehe – mechanisch haben wir es denen in der ersten
     Reihe nachgemacht und uns erhoben und niedergesetzt wie sie –, trete ich an Meyssonnier vorbei zu Thomas heran. Es fällt ihm
     schwer, die speichelverklebten Lippen zu bewegen, während er zu mir sagt: Sobald der Regen aufhört, gehe ich nachsehen. Ich
     nicke und kehre an meinen Platz zurück, erstaunt, daß er es für nötig befunden hat, mir das zu sagen, denn mir erscheint die
     Sache klar. Ich erwarte nicht, daß er sich dem Regen aussetzt, der jetzt nach meiner Überzeugung mit todbringendem Staub angereichert
     ist. Die Angst hat solche Gewalt über mich erlangt, daß alle Hoffnung ausgelöscht ist.
    Die zwei Fenster sind ständig übergossen, jetzt aber seltsamerweise heller, als leuchtete ein Regenschleier herein. Hinter
     diesem Schleier ist nichts zu erkennen als eine weißliche dichte Masse. Ich habe den absurden Eindruck, daß die Sintflut das
     kleine Tal der Rhunes bis zu unserer Höhe ausgefüllt hat und die Felswand mit allen ihren Klüften unterspült. Mit Verwunderung,
     doch ohne mir bewußt zu werden, was es bedeutet, bemerke ich, daß ein Glas mit Wein und ein Teller, auf dem Brotstücke liegen,
     unter uns weitergereicht werden. Ich sehe Thomas, dann Meyssonnier trinken, und erst als ich mich davon betroffen fühle, begreife
     ich, daß sie, ohne es zu wissen, dabei sind, die Kommunion zu empfangen. Vermutlich beglückt es sie, ihren ausgetrockneten
     Mund mit einem Schluck Wein zu netzen. Aber auch sie haben es nun wohl begriffen und sich besonnen, denn sie geben den Teller
     mit den Brotstücken, ohne daran zu rühren, zugleich mit dem Glas an mich weiter.
    Jetzt bemerke ich, daß Jacquet neben mir steht. Er sieht meine Verlegenheit und nimmt mir den Teller aus der Hand. Und da
     ich das Glas gierig zum Mund hebe, beugt er sich vor |273| und flüstert mir ins Ohr: Laß für mich noch etwas übrig! Er tut gut daran, denn ich hätte alles ausgetrunken. Als ich fertig
     bin, hält er mir den Teller hin, und ich nehme mit raschem Griff außer dem mir zustehenden auch noch die Brotstücke meiner
     Nachbarn. Es ist ein reiner Abwehrreflex: Ich möchte Fulbert nicht merken lassen, daß zwei von uns die Kommunion zurückgewiesen
     haben. Es wundert mich nur, daß dieser Reflex eintritt und ich noch immer daran denke, für die Zukunft zu sorgen, während
     ich doch der Auffassung bin, daß hier kein Mensch mehr eine Zukunft hat. Bei diesem Taschenspielertrick, der den Blicken Fulberts
     durch den breiten Rücken der Falvine entzogen war, hat Jacquet mich beobachtet. Er schaut mich mit einem Schatten Mißbilligung
     in seinen naiven Augen an, aber ich weiß, daß er nichts sagen wird.
    Dies alles hat sich für mich undeutlich, wie in dichtem Nebel abgespielt, als wäre auch mein Gehirn von dem Regen überschwemmt,
     der an die Scheiben schlägt. Ich habe die sonderbare Empfindung von bereits Gesehenem, als hätte ich diese Szenerie und dieses
     Schauspiel schon in einer früheren Existenz erlebt: das fahle Licht, die überfluteten Fenster, die Waffen als Trophäen zwischen
     den Fenstern, Fulbert, dessen Umriß und hohles Gesicht ich kaum unterscheiden kann, die schwere klösterliche Tafel und dahinter
     uns, schweigend zusammengedrängt und von Entsetzen gepeinigt. Eine Handvoll verlorener Menschen in einer leeren Welt. Jacquet
     ist an seinen Platz zurückgegangen, Fulbert hat sein Psalmodieren wieder, aufgenommen, und Momo, da nun das Gewitter vorüber
     ist, wimmert nicht mehr, hat aber, kaum war sein Abendmahl verschluckt, seinen Kopf gleich wieder dem Schutz der spröden Ärmchen
     der Menou unterstellt. Seltsam, wie vertraut mir das alles erscheint, auch dieser große, herrschaftliche Raum, der im Dämmerschatten,
     durch die fahlen Fenster und die zwei dicken Kerzen kaum erhellt, an eine Gruft denken läßt, in der wir an unseren künftigen
     Gräbern wachen. Ein Teilchen Licht hat sich im Halbdunkel in Miettes prachtvollem schwarzem Haar verfangen, und mit einem
     Stich im Herzen denke ich plötzlich daran, daß ihr Erscheinen unter uns nichts gefruchtet hat und daß Miette kein Leben fortpflanzen
     wird.
    Die Messe geht zu Ende, der Regen fällt noch immer in Strömen. Die Windstöße rütteln gewaltig an den Fenstern, haben |274| sie aber nicht aufzustoßen vermocht, sondern

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