Malevil
Bitte, mich inzwischen »auszuru hen «, setze ich mich in einen dieser Ledersessel, in denen sich, zusammengekniffen von der Angst zu verlieren, vor meinem eigenen
schon so viele andere Hinterteile niedergelassen haben.
Stillstand der Zeit. Inhaltsleerer Moment. Ich blicke mich im Raum um. Ich finde ihn sehr bedrückend. An der Wand hinter dem
Schreibtisch von Maître Gaillac bis unter die Decke eine Unzahl kleiner Schubfächer voll verblichener Affären. Wie in einem
Kolumbarium. Diese Manie der Menschen, alles zu klassifizieren.
Die Vorhänge sind dunkelgrün, grün die mit Stoff verkleideten Wände, grün die Schubfächer, grün auch der Lederbelag auf der
Schreibtischplatte. Und auf dem Schreibtisch, neben einem monumentalen Tintenfaß aus unechtem Gold, ein makabrer Ziergegenstand,
der mich schon immer fasziniert hat: eine tote Maus, eingegossen in einen Block aus einem Material, das durchsichtig wie Glas
ist. Auch sie ist klassifiziert.
Ich vermute, man hat sie beim Beknabbern einer Akte betroffen und zur Strafe zu ewiger Haft in Plast verurteilt. Ich beuge
mich vor und hebe sie an. Zusammen mit ihrer Zelle ist sie recht schwer. Und ich erinnere mich jetzt, vor dreißig Jahren,
als ich den Onkel zum Notar begleitete, hat der Vater von Maître Gaillac sie als Briefbeschwerer benützt. Ich schaue mir diesen
kleinen, auf ewig verurteilten Nager an. Wenn Maître Gaillac junior sich seinerseits einmal zurückzieht, wird er ihn, vermute
ich, seinem eigenen Sohn weitervermachen, ebenso |33| wie die Kastenfächer seines Kolumbariums und wie den Aktenfriedhof auf seinem Dachboden. Generationen von Notaren, die einander
dieselbe Maus weiterreichen – wie traurig. Ich weiß nicht, weshalb, es macht mir den Tod sehr gegenwärtig.
Maître Gaillac junior tritt ein. Brünett, groß, gelblicher Teint und bereits ergrauendes Haar. Er begrüßt mich mit einer etwas
müden Höflichkeit. Dann kehrt er mir den Rücken und öffnet eines seiner kleinen Schubfächer, zieht eine Akte heraus und aus
der Akte einen versiegelten Brief. Bevor er mir den Brief reicht, betastet er ihn mit einer matten, flüchtigen Bewegung, als
wunderte er sich, wie dünn er ist.
»Bitte, Monsieur Comte.«
Und mit seiner etwas weichlichen Stimme läßt er sich auf einen langen Kommentar ein, der völlig überflüssig ist, denn auf
dem Umschlag lese ich in der schweren Handschrift des Onkels: Meinem Neffen Emmanuel Comte ein Jahr nach meinem Tode zu übergeben,
wenn er, wie ich glaube, die Bewirtschaftung der Sept Fayards übernommen hat.
Vor der Heimfahrt habe ich noch Besorgungen in der Stadt zu machen, und den ganzen Nachmittag trage ich den Brief des Onkels
in der Jackentasche mit mir herum. Erst am Abend, als ich mich nach der Mahlzeit in das kleine Büro im oberen Ausbau der Sept
Fayards zurückziehe, mache ich ihn auf. Während ich mit dem dolchförmigen Brieföffner, den mir der Onkel einmal geschenkt
hat, den Umschlag aufschlitze, zittert mir ein wenig die Hand.
Emmanuel,
heute abend denke ich ohne jeden Grund, denn ich bin bei guter Gesundheit, an meinen Tod, und deshalb schreibe ich diesen
Brief. Es wirkt seltsam auf mich, mir vorzustellen, daß Du diesen Brief lesen wirst, wenn ich nicht mehr bin und wenn Du Dich
an meiner Stelle um die Pferde kümmerst. Wie es heißt, muß man wohl eines Tages sterben. Ein Beweis, wie dumm wir sind, denn
ich sehe die Notwendigkeit nicht ein.
Unter den Gütern, die ich Dir hinterlasse, sind nicht allein die Sept Fayards, sondern auch meine Bibel und mein zehnbändiger
Larousse.
Ich weiß wohl, daß Du nicht mehr gläubig bist (und durch wessen Schuld?), doch in Erinnerung an mich solltest du trotzdem |34| ab und zu die Bibel lesen. Bei diesem Buch darf man sich nicht an die Gebräuche kehren, auf die Weisheit kommt es an.
Meinen Larousse hat zu meinen Lebzeiten niemand aufgeschlagen außer mir. Wenn Du darin blätterst, wirst Du begreifen, warum.
Zum Schluß möchte ich Dir sagen, Emmanuel, daß ohne Dich mein Leben leer gewesen wäre und daß Du mir viel Freude gemacht hast.
Weißt Du noch, damals, als Du weggelaufen bist und ich Dich aus Malevil holen kam? Ich umarme Dich.
Samuel
Ich las diesen Brief zweimal. Die Großherzigkeit des Onkels beschämte mich. Immer hatte er mir alles gegeben, und nun war
er es, der sich bei mir bedankte! »… daß Du mir viel Freude gemacht hast.«
Mir wollte es das Herz abschnüren. An sich ein kleiner,
Weitere Kostenlose Bücher