Malevil
Hervé.
Ich sehe ihn an.
»Dann darfst du ihn nicht auf der einen Seite lassen, wenn du auf der andern stehst. Stell dir vor, du müßtest auf ihn schießen,
wenn Vilmain uns angreift!«
Hervé errötet, und sein Blick verrät zweierlei: Er ist glücklich, daß ich daran gedacht habe, ihn zu bewaffnen und auf unserer
Seite kämpfen zu lassen, und er schämt sich, weil er Maurice vergessen hat.
»Ich will dir sagen, was wir tun werden, Hervé. Wir lassen dich wieder frei.«
Er fährt zusammen. Niemals kann ein Gefangener bei dem Gedanken, befreit zu werden, weniger froh gewesen sein. Heimlich bemerke
ich auch bei den Gefährten unterschiedliche Regungen.
Ich sehe Hervé an. Die Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen.
»Ist daran etwas nicht in Ordnung?« frage ich.
Er nickt.
»Wenn du mich freiläßt, ohne mir mein Gewehr zurückzugeben«, sagt er mit erstickter Stimme, »ist das soviel, als würdest du
mich zum Tode verurteilen.«
»Daran habe ich gedacht. Bevor du gehst, geben wir dir deine Waffe zurück. Du machst dann folgendes: Du sagst selbstverständlich
nicht, daß du gefangengenommen worden bist. Du erzählst, daß dein Kamerad getötet wurde, als er den Kopf über |416| die Palisade steckte, und daß du in einem Hagel von Geschossen geflüchtet bist. Du wirst sagen«, setze ich hinzu, »daß du
meinst, man habe vom Bergfried herab auf dich geschossen.«
Ich möchte vermeiden, daß Vilmain, bevor er angreift, etwas von der Existenz des kleinen Bunkers auf dem Hügel der Sept Fayards
ahnt.
»Denk daran, es ist wichtig!«
»Ich werde daran denken«, sagt Hervé.
»Schön. Und dann wirst du mit Maurice bei erster Gelegenheit … Eine letzte Frage, Hervé: Wie bist du von La Roque hergekommen?«
»Auf der Straße«, sagt Hervé etwas erstaunt. »Gibt es denn einen anderen Weg?«
Ich gebe keine Antwort. Wir sind fertig. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Hervé wartet. Er läßt seine aufrichtigen schwarzen
Augen umherwandern. Sein Spitzbärtchen steht ihm gut. Es bringt ihn zur Geltung, läßt ihn älter erscheinen. Und er sieht uns
unentwegt an, er sieht die Menou an – er hat ihre Schwäche für ihn gleich gefühlt –, die Fenster mit den Kreuzrahmen, die
Trophäen zwischen den Fenstern, den monumentalen Kamin. Sein Adamsapfel bewegt sich auf und ab, und obwohl er ein munteres
Gesicht macht, erkenne ich doch, daß dieser Bengel äußerst gerührt ist. Und daß er nur eine Angst hat: die Menschen zu verlieren,
die ihn bereits adoptiert haben. Malevil zu verlieren.
Ich stehe auf.
»Es ist an der Zeit, Hervé.«
Er erhebt sich, ich trete heran und lege ihm wieder die Binde um die Augen. Wir alle begleiten ihn bis zum Torbau, von dort
aber führen nur Meyssonnier und ich ihn bis zur Palisade weiter. Durch das Schlupfloch lassen wir ihn hinaus. Ich reiche ihm
sein Gewehr hinterher, und als er aufsteht, winkt er uns, breit und kindlich lächelnd, herzlich zu. Mit großen Schritten geht
er davon. Durch das Guckloch sehe ich ihm nach.
»Möglich, daß wir ein Gewehr verloren haben«, sagt Meyssonnier an meinem Ohr.
Ich sehe ihn an.
»Möglich, daß wir dafür zwei bekommen werden.«
Und was wichtiger ist: zwei Mitkämpfer. Denn an Gewehren haben wir mit dem des Toten jetzt acht. So daß wir außer den |417| sechs Männern auch Miette und Catie ausrüsten können. Nein, wir brauchen vor allem Männer. Wenn es Hervé und Maurice glückt,
wird Vilmain nur noch vierzehn Mann haben. Und unter dieser Voraussetzung haben wir dann zehn. Und in einem Kampf Gewehr gegen
Gewehr macht die Zahl viel aus.
Das erkläre ich in der Versammlung, die ich gleich nach dem Weggang Hervés im Torbau abhalte, während Jacquet außerhalb der
Palisade für den Toten ein Grab schaufelt und Peyssou hundert Meter weiter, unterhalb der Straße, verborgen ist, um ihn während
seiner Arbeit mit bewaffneter Hand zu decken. Denk daran, dich gut zu verstecken, Peyssou, hat Meyssonnier gesagt. Sehen,
ohne gesehen zu werden!
Denn Meyssonnier ist unser Experte. Sein Steckenpferd. Obwohl Kommunist, hat er einen Unteroffizierslehrgang besucht. Vermutlich
meinte er, daß man die Kenntnisse nehmen müsse, woher sie auch kommen. Und zu Beginn der Versammlung belehrt er uns, das Gewehr
36 habe im zweiten Weltkrieg zur Ausrüstung der französischen Armee gehört und sei nicht übel. Was die Panzerfaust anbelangt,
handle es sich vermutlich um ein amerikanisches Modell aus dem Jahre 1942 mit
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