Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
einmal ihrer Sache nicht mehr sicher war. Hatte sie sich nicht am Vorabend noch darauf gefreut, sie kennenzulernen? Aber jetzt, wo der Zeitpunkt des Kennenlernens unweigerlich näher rückte, beschlich sie das seltsame Gefühl, dass die Millards sie der Tür verweisen würden.
Spontane Entscheidungen waren nicht immer die besten, manchmal hingegen waren sie goldrichtig. Sie und Grace mussten nicht lange nach einer Kutsche suchen, die sie aus London herausbrachte. Dasselbe Gefährt, das geschickt worden war, um sie am Vorabend abzuholen, stand wieder vor der Tür. Kaum hatte der Kutscher die beiden Damen entdeckt, sprang er vom Kutschbock, um ihnen die Tür aufzuhalten.
Grace, die sichtlich beeindruckt war, fragte: »Sagen Sie jetzt nicht, Sie hätten die ganze Nacht hier gewartet.«
»Nein, Ma'am, aber mein Auftrag lautet, Sie beide bis zu Ihrer Ausschiffung überall dort hinzufahren, wo Sie es wünschen.«
Welch eine angenehme Überraschung, die Reise nach Gloucestershire nicht selbst organisieren zu müssen. Katey teilte dem Kutscher mit, er möge auf dem Weg stadtauswärts noch einmal bei Sir Anthony halten, damit sie ihren Mantel abholen konnte, den sie im Eifer des Gefechts hatte liegen lassen. Da es ihr einziger warmer Mantel war, konnte sie nur schlecht auf ihn verzichten. Da sie annahm, dass zu so früher Stunde lediglich das Gesinde auf den Beinen war, schickte sie den Kutscher, statt selbst zu gehen.
Doch sie sollte sich irren. Es gab jemanden, der bereits wach und munter war. Plötzlich kam Judith die große Freitreppe heruntergehüpft und gesellte sich zu Katey und Grace, die im Innern der Kutsche warteten.
Katey brachte es nicht übers Herz, die Kleine zu schelten. Es war gefährlich, in eine Kutsche zu klettern, wenn man nicht wusste, wer darin saß. Dann nahm sie jedoch an, dass der Kutscher ihr verraten hatte, wer vor der Tür wartete, und so sagte sie lediglich: »Stehst du immer so früh auf?«
»Holen Sie immer so früh Ihre Sachen ab?«, konterte Judith verschmitzt.
»Ich verlasse London«, erklärte Katey ihr. »Dies ist die letzte Gelegenheit, meinen Mantel zu holen. Ich habe mich entschlossen, meinen Verwandten in Gloucestershire doch einen Besuch abzustatten, ehe ich England für immer verlasse.«
»Da lebt Ihre Familie also?«
»Ja, warum?«
»Weil Jason auch in Gloucestershire wohnt.«
»Wer ist Jason?«
»Mein Onkel. Er ist das Familienoberhaupt. Können Sie sich noch daran erinnern, dass ich Ihnen von seinen Gärten erzählt habe?«
»Ach ja, der Gartenliebhaber.«
Judith kicherte. »Schade, dass er das nicht gehört hat, es wäre Musik in seinen Ohren. Blumen sind nämlich sein Ein und Alles.«
»Ist er nicht derjenige mit der unbequemen französischen Kutsche, die dort ihren ewigen Frieden gefunden hat?«, warf Grace schmunzelnd ein.
»Richtig. Die müssen Sie sich einfach ansehen. Sie ist der Blickfang in seinen Gewächshäusern.«
»Ich fürchte, dazu fehlt mir die Zeit, Judith. Gloucestershire ist groß. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir in der Nähe deines Onkels sind, ist eher gering. Vergiss nicht, mein Schiff läuft bereits in vier Tagen aus. Wir werden auf direktem Wege nach Hävers Town fahren und … Judith, was hast du denn?«, fragte Katey, als das Kind plötzlich die Augen aufriss.
»Haverston liegt ganz in der Nähe von Onkel Jasons Anwesen!«, rief Judith aufgeregt. »Das wäre doch perfekt!«
»Was wäre perfekt?«
»Sie könnten in seinem Haus übernachten.«
Katey schüttelte den Kopf. »Kommt gar nicht infrage, dass wir ihn für ein oder zwei Nächte behelligen. Wir werden uns ein Zimmer im Gasthof nehmen.«
»Aber wir würden uns riesig freuen!«
Katey legte die Stirn in Falten. »Was meinst du damit?«
»Sie glauben gar nicht, was gestern noch los war, nachdem Sie fort waren. Wir hatten ja keine Ahnung, was Onkel Boyd ausgefressen hat. Meine Eltern waren außer sich und haben sich das Hirn zermatert, wie sie es wieder gutmachen können. Es wäre zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber ich bin überzeugt davon, dass sie sich besser fühlen würden, wenn Sie unsere Gastfreundschaft in Anspruch nähmen. Sie müssen einfach.«
Das ist doch albern, dachte Katey, als Judith fortfuhr: »Das Haus ist groß und gemütlich, es wird Ihnen bestimmt gefallen. Außerdem ist es nicht verkehrt, Freunde zu haben, wenn man sich in die Höhle des Löwen wagt.«
Es dauerte einen Augenblick, bis Katey verstand, was Judith meinte. Dann brach sie in
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