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Malory

Malory

Titel: Malory Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: 04. Wer die Sehnsucht nicht kennt
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überschlugen sich, als ihr klar wurde, daß sie plötzlich und völlig unerwartet allein waren.
    Nicht ganz allein, mußte sie ihr heftig klopfendes Herz ermahnen. Nein, die Diener waren im Haus. Henri hatte eben Warren hereingelassen, also mußte er irgendwo in der Nähe sein. Aber jetzt, in diesem Augenblick, waren sie allein, und sie konnte noch immer nicht glauben, daß Jeremy sie so im Stich gelassen hatte.
    Wenn es irgendein Fremder gewesen wäre, hätte Jeremy es natürlich nicht getan. Aber sie und Warren waren ja in gewisser Weise verwandt. Ihre angeheiratete Tante war seine Schwester. Deshalb konnte Jeremy nichts Unrechtes daran finden, sie ohne Begleitperson mit ihm allein zu lassen. Und er wußte auch nicht, was sie für Warren empfand.
    Warrens Blick wanderte jetzt zu ihr und verwirrte sie mit seiner kühlen Direktheit. Er hatte Ansätze von Grübchen, doch Amy konnte sie nur erahnen, denn sie hatte ihn niemals lächeln sehen. Seine Gesichtszüge waren markant, seine Nase gerade, sein Kinn trotzig. Seine Augen hätten strahlend sein können, der ernste Ausdruck in ihnen aber ließ sie kalt erscheinen. Sein dunkelblondes Haar, früher eine widerspen-stige modische Lockenmähne, war jetzt viel zu lang und dadurch ein wenig glatter.
    Er war schlank, aber keineswegs hager, von ähnlicher Statur wie Onkel Tony, nur noch größer und etwas breitschultriger. Er stand in Seemannsmanier mit leicht gespreizten Beinen da, wie um an Deck eines Schiffes die Balance zu halten. Das hatte sie bei allen Anderson-Brüdern beobachtet und bisweilen auch noch bei Onkel James.
    Warren war salopp gekleidet; er trug einen schwarzen Umhang, graue Hosen und ein schlichtes weißes Hemd ohne Halstuch. Ihr war schon aufgefallen, daß keiner der Anderson-Brüder ein Halstuch trug. Er wirkte nicht elegant, eher lässig, so wie sie sich einen amerikanischen Kapitän vorgestellt hatte.
    Sie hätte jetzt etwas sagen müssen, war aber außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen, solange er seinen Blick so unverwandt auf sie gerichtet hielt. Ironischerweise hatte sie eine Gelegenheit wie diese herbeigesehnt. Sie hatte sich so vieles zurechtgelegt, was sie ihm sagen könnte, feinsinnige Dinge, aus denen er ihre Gefühle herauslesen könnte. Jetzt aber, im entscheidenden Moment, wollte ihr einfach nichts einfallen.
    »Frühstück«, platzte sie plötzlich heraus. »Möchtest du etwas?«
    »Zu dieser Stunde?«
    Es war später als fünf Uhr gewesen, als er und seine Brüder am Morgen das Haus verlassen hatten. Amy hatte gehört, daß sie im Albany Hotel am Piccadilly abgestiegen waren; das war zwar nicht weit von hier, trotzdem aber konnten sie kaum vor sechs ins Bett gekommen sein. In Anbetracht der Tatsache, daß das acht Stunden her war, fand sie seinen abfälligen Ton alles andere als angebracht. Doch sie hatte es ja mit Warren zu tun, dem Zyniker, dem Frauenhasser, dem Engländer-Hasser, dem Malory-Hasser, dem Hitzigsten von allen Andersons. Sie wür-de nie mit ihm auskommen, wenn sie sich das nicht immer vor Augen halten und die oft frostige und kränkende Art einfach ignorieren würde.
    Amy stand vom Tisch auf. »Ich nehme an, du bist hier, um George zu sehen.«
    »Hat dieser Kerl es fertiggebracht, daß die ganze Familie sie jetzt so nennt?« knurrte er.
    Sie ignorierte seinen Tonfall, diesmal noch, und sagte: »Tut mir leid. Als Onkel James sie mir als George vorstellte, hat sie ihn nicht verbessert. Erst später fand ich heraus, daß es nicht ihr wirklicher Name ist, und bis dahin ...« Sie zuckte die Achseln, um anzudeuten, daß es ihr inzwischen zur Gewohnheit geworden war. »Aber ihr nennt sie doch auch nicht Georgina, oder?«
    Bei dieser Anspielung verfinsterte sich seine Miene noch mehr. Oder es war nur ein Ausdruck von Verlegenheit. Er hatte allen Grund, verlegen zu sein, denn »Georgie« klang nicht weiblicher als »George«. Aber sie hatte ihn gar nicht verlegen machen wollen. Verflixt, die Sache fing nicht gut an.
    Um den Namen zu vermeiden, an dem er derart Anstoß nahm, sagte sie: »Meine Tante und mein Onkel schlafen noch.
    Sie sind schon früh aufgestanden, weil Jack gefüttert werden mußte. Und danach haben sie sich wieder schlafen gelegt.«
    »Untersteh dich, mit diesem abscheulichen Namen von meiner Nichte zu sprechen.«
    Dies war kein verdrießlicher Tonfall mehr, dies war blanker Zorn. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als ihr die Worte ihres Onkels einfielen, wie Warren angeblich mit eigensinni-gen Frauen

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