Malory
ein Kind gehalten. Diese Feste wurden als Gelegenheiten zum Lernen angesehen, als eine Möglichkeit, den Jugendlichen zu zeigen, wie man sich als Erwachsener zu benehmen hat. Dort war sie mit gleichaltrigen Mädchen und Jungen zusammengetroffen, und das endete gelegentlich mit heimlichen Küssen in einem verborgenen Winkel oder im Garten an einem noch abgeschiedeneren Ort. Ein bestimmter Junge war erfahrener gewesen als alle anderen zusammen. Er war bei einer älteren Frau in die Lehre gegangen, die ihn hatte verführen wollen, so hatte er wenigstens geprahlt.
Auf jeden Fall hatte er sie auf das vorbereitet, was Warren beabsichtigt hatte, wenn auch nicht auf das, was sie dabei empfand. Denn das war unvergleichlich. Sie wußte schon, daß sie Warren begehrte, daß er ein Mann war, der einzige, den sie lieben wollte. Doch als sie jetzt seinen Körper so fest an ihrem spürte und seinen Kuß genoß, da verlor sie ein wenig den Boden unter den Füßen. Sie konnte nicht dagegen an. Davon hatte sie geträumt, hatte es herbeigesehnt, hatte begehrt, von ihm begehrt zu werden, und nun, da es möglich schien ...
Als seine Zunge in ihren Mund drang, war sie bereit, ihr zu begegnen, ja, selbst auf Entdeckungsreise zu gehen. Mit einem Stöhnen schmiegte sie sich noch enger an ihn, und als er jetzt seine Arme um sie legte, glaubte sie, vor Wonne zu sterben. Sie hatte wohl gespürt, daß er zunächst überrascht war, dann aber bereit zu nehmen, was sie ihm bot, bis ihm plötzlich bewußt wurde, was er da tat.
»Um Himmels willen«, stöhnte er und stieß sie heftig von sich.
Sein Atem ging genauso schnell wie der ihre, und in seinen Augen war keine Kälte mehr. Sie funkelten, aber ob sie es vor Verlangen taten, hätte sie nicht sagen können, denn sein Gesichtsausdruck zeigte ihr, daß er zornig auf sie und wohl auf sich selber war.
»Wo hast du gelernt, so zu küssen?« fragte er barsch.
»Ich hab’s geübt.«
»Und was hast du sonst noch geübt?«
Es lag so viel Anzüglichkeit in seiner Stimme, daß sie ein wenig gekränkt war. »Nicht, was du denkst«, entgegnete sie.
»Ich kann gut Ohrfeigen verteilen, wenn ein Kerl mehr will als küssen.«
»Ich würde dir raten, das nicht an mir auszuprobieren.« Sein Tonfall war jetzt, da er seine Fassung wiedergefunden hatte, etwas weniger drohend geworden.
»Das hatte ich auch nicht vor«, sagte sie, an seinen Leder-gürtel denkend.
»Nicht daß ich die Absicht hätte, etwas anderes mit dir anzustellen«, fügte er rasch hinzu, um sie nicht auf falsche Gedanken zu bringen. »Im Gegenteil, ich rate dir, dich von mir fernzuhalten.«
»Warum?«
Ihre Enttäuschung war ihm nicht entgangen. »Herrgott noch mal, du bist doch noch ein Kind!«
Ihre Augen blitzten zornig auf. »Pflegst du Kinder immer so zu küssen wie mich eben?«
Die Röte, die ihm jetzt ins Gesicht stieg, war selbst im trü-
ben Licht des Kinderzimmers nicht zu übersehen. Amy verkniff sich ein hämisches Grinsen, wandte sich ab und rauschte aus dem Zimmer.
Kapitel 9
»Diese Amy«, sagte Warren beiläufig, »hat sie sich mit dir angefreundet?«
Georgina merkte nicht, daß ihr Bruder bei der Frage ein wenig rot geworden war. Sie hatte Jacqueline auf dem Schoß und warf ihrem Bruder verständlicherweise nur einen flüchtigen Blick zu.
»Es war eigentlich eher umgekehrt«, antwortete Georgina.
»Denn schließlich bin ich hier der Außenseiter. Aber warum willst du das wissen?«
»Ich war nur überrascht, sie heute wieder hier anzutreffen.«
»Hat sie dir nicht gesagt, daß sie mir so lange aushilft, bis der Doktor und James meinen, daß es mir wieder gutgeht?«
»Wie geht’s dir übrigens?«
Sie lachte. »Wie zum Teufel soll’s mir wohl gehen? So wie’s einem geht, wenn man gerade ein Baby bekommen hat.«
»Verdammt noch mal, Georgie, du brauchst nicht wie sie zu fluchen, nur weil du mit ihnen lebst.«
»Mein Gott, Warren, mußt du jedes meiner Worte auf die Goldwaage legen? Kannst du dich nicht ein wenig darüber freuen, daß ich eine gesunde, süße Tochter habe und dazu einen Mann, den ich liebe? Nicht viele Frauen haben dieses Glück, weißt du? Die meisten heiraten, weil ihre Familien es so wünschen, doch unglücklich sind am Ende nur sie, nicht ihre Familien.«
Er verstand sie zwar, wollte aber einfach nicht begreifen, daß ein Mann wie James Malory sie glücklich machte. Er konnte diesen Mann und seine merkwürdige Art von Humor nicht ertragen, konnte nicht verstehen, was Georgina in ihm sah.
Weitere Kostenlose Bücher