Malory
Unterlaß.
Als sie die Kutsche erreichten, die tatsächlich noch immer in der Nähe der Taverne wartete, war sie fast sicher, daß er sie einfach hineinstoßen und seiner Wege gehen würde. Aber er folgte ihr in die Kutsche und knurrte dem Fahrer die Adresse zu.
Während die Kutsche dahinrollte, saßen sie sich in eisigem Schweigen gegenüber. Kein Wort hatte er gesagt, seit er die Tür zugeschlagen hatte. Seine Zornausbrüche machten ihr wenig aus – dazu neigte auch sie, wenn sie provoziert wurde.
Aber dieses Schweigen konnte sie kaum ertragen. Es machte sie stumm, ja sogar nervöser als sein Gebrüll. Bei seinen Wutanfällen wußte sie wenigstens, was in ihm vorging.
Also ließ sie ihrem Temperament freien Lauf. Ihr Pech aber war, daß sie selbst nur eines auf dem Herzen hatte, und so klang ihr Necken nicht sonderlich neckisch, zumindest nicht in Warrens Ohren.
»Geräumige Kutschen wie diese sind eine großartige Einrichtung, findest du nicht? Und wahrscheinlich werden wir uns nie wieder so nah sein wie jetzt – es sei denn, du nimmst mich mit in dein Hotel.«
»Halt den Mund, Amy!«
»Bist du sicher, daß du diese herrlich bequemen Sitzbänke nicht nutzen willst? Ich weiß, daß meine beiden jüngeren Onkel sich eine solche Gelegenheit niemals hätten entgehen lassen.«
»Halt den Mund, Amy!«
»Meine Cousins übrigens auch nicht. Derek und Jeremy würden die Damenröcke ...«
»Amy!«
»Doch, wirklich«, versicherte sie. »Lebemänner wie sie reiten nicht dauernd auf Fragen wie Alter und Jungfräulichkeit oder Nicht-Jungfräulichkeit herum.«
»Ich bin kein Lebemann.«
»Das habe ich zu meinem Bedauern auch schon festgestellt.
Denn wenn du einer wärst, würde ich nicht allein hier auf meiner Bank sitzen, sondern auf deinem Schoß, und deine Hand würde heimlich meine Röcke hochschieben, während ...«
Mit einem lauten Stöhnen schlug er die Hände vors Gesicht.
Amy lächelte in sich hinein, zufrieden, ihn erneut zur Weißglut gebracht zu haben, als er plötzlich höhnisch sagte: »Schon dein Wissen um diese Dinge entlarvt dich.«
»Unsinn. Es gibt nur zufälligerweise eine ganze Menge Jungverheirateter Paare in meiner Familie, die manchmal vergessen, daß ich es nicht bin. Selbst deine Schwester hat mir ein paar Dinge über Onkel James erzählt, die ich faszinierend fand. Wußtest du, daß er sie am hellichten Tag vom Achterdeck in seine Kabine geschleppt hat, um ...«
»Den Teufel hat er getan!«
»Doch, hat er«, beharrte sie, »und zwar bevor sie verheiratet waren.«
»Ich will nichts davon hören.«
Sie schnalzte mit der Zunge. »Du scheinst mir ganz schön prüde zu sein, mein lieber Warren.«
»Und du scheinst mir ordinär wie eine Hafendirne zu sein«, gab er zynisch zurück.
»Ich gebe mir auch alle erdenkliche Mühe«, lachte sie.
»Schließlich hast du heute abend nach einer gesucht. Bin ich nicht entgegenkommend?«
Er gab keine Antwort, sondern starrte sie nur an. Sie dachte einen Augenblick lang, er würde die Hand nach ihr ausstrek-ken. Und wenn er sie nur strafen wollte, wäre sie schon zufrieden. Sie würden sich wieder küssen, und das war furchtbar aufregend und elektrisierend. Doch er tat nichts, um den Raum zwischen ihnen zu überbrücken. Dieser Mann trieb Schindlu-der mit ihrer Selbstachtung, das stand fest.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte sie leicht gereizt. »Du würdest den weiten Weg aufs Land nicht scheuen, nur um eine ordentliche Gerte zu finden. Aber ich schreie mir die Seele aus dem Leib, wenn du mich in irgendeiner Weise berührst, die mir kein Vergnügen bereitet. Doch vielleicht schreie ich mir auch die Seele aus dem Leib«, fügte sie nachdenklich hinzu, »wenn die Lust kommt. Ich habe diese Art von Lust noch nicht erlebt.
Wir werden sehen, wie ich darauf reagiere, meinst du nicht auch?«
Diesmal beugte er sich vor. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Zum erstenmal sah sie das Blut in der kleinen Narbe auf seiner Wange pulsieren. Sie hätte gern gewußt, ob er sie am Ende lieben oder erwürgen würde. Sie hatte ihn ganz entschieden zu weit in die eine oder die andere Richtung getrieben, war aber nicht sicher, in welche, und hatte nicht den Mut, der Sache auf den Grund zu gehen.
»Gut, du hast gewonnen«, versprach sie schnell. »Wenn du wirklich Friedhofsstille willst, dann sollst du sie haben.«
Sie wandte den Blick von ihm ab und schaute aus dem Fenster in der Hoffnung, ihn damit zufriedenzustellen. Es dauerte einige nervenaufreibende
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