Malory
Geheimnis zu bewahren, viel leichter, als sie es sich erhofft hatte. Und das nur, weil Lucy Recht behalten hatte. Als sie Danny in zerlumpten Kniehosen zu der übrigen Ras-selbande gebracht hatte, die langen Haare im Nacken abgeschnitten, in einem zu großen Hemd, einem zu kleinen Mantel und dem alten Hut, den Danny aufgelesen hatte, um ihre Augen vor dem Regen zu schützen, hatte das einen bleibenden Eindruck hinterlassen, an dem nie gerüttelt worden war.
Rasch war sie »einer der Jungs« geworden. Sie hatte gelernt, mit den anderen zu stehlen, zu kämpfen, alles zu tun, was sie machten – na ja, außer wenn sie nach der Art weiblicher Gesellschaft Ausschau hielten, von der Danny lieber nichts wissen wollte.
Zurzeit waren sie vierzehn Jungs und Mädchen und wohnten in einem heruntergekommenen Haus, für das Dagger die Miete zahlte. Im Lauf der Jahre hatten sie in vielen solcher Gebäude gehaust, sogar in verlassenen Mietskasernen, als kein Geld da war, um Miete zu bezahlen.
Dagger blieb nie lange an einem Ort. Ihr jetziges Zuhause hatte vier Zimmer: eine Küche, zwei Schlafzimmer und ein großes Wohnzimmer. Das eine Schlafzimmer be-anspruchte Dagger für sich. Die Mädchen bekamen das andere, zum Schlafen oder zum Arbeiten, wenn sie alt genug waren, um anschaffen zu gehen. Alle anderen, Danny eingeschlossen, schliefen in dem großen Wohnzimmer.
Es gab einen kleinen Hinterhof. Obwohl dort kein Gras wuchs, war er für die Kinder ganz schön zum Spielen. Danny hatte Hinterhöfe immer gern gemocht, nachdem sie erst einmal ihre Abneigung gegen das ständige Schmutzigsein überwunden hatte. Baden kam für sie nicht infrage, zumindest nicht in den großen Wan-nen, die einmal in der Woche für alle in der Küche auf-gestellt wurden. Stattdessen stahl sie sich zum Fluss hinunter, wenn es möglich war. Und der Regen wurde ihr Freund.
Lucy war ihre einzige Vertraute. Die Freundin bekam nicht die Pocken, wie sie befürchtet hatte, als sie auf Daggers Drängen schließlich doch ihre Haut zu Markte trug. Danny verstand Daggers Logik, auch wenn sie ihr nicht gefiel. Da Lucy ganz hübsch war, hätte sie bei den Leuten, die sie ausrauben wollte, viel zu viel Aufmerksamkeit erregt. Ein Taschendieb musste jedoch für sein Opfer nahezu unsichtbar sein. Das war bei Lucy ausgeschlossen. Wie sonst sollte sie also ihren Lebensunterhalt verdienen?
Dagger war schon damals der Älteste von ihnen gewesen und war es immer noch; er war ihr unbestrittener Anführer. Am Anfang hatte es nur wenige Regeln gegeben, nichts, das irgendjemanden ernsthaft gestört hätte.
Dagger schien jedoch zu glauben, kein richtiger Leitwolf zu sein, wenn er nicht immer wieder einmal neue Vor-schriften einführte.
Danny stritt sich nie mit Dagger; sie tat stets klaglos wie ihr geheißen. Sein scharfes Auge war das Einzige, das sie wirklich fürchtete, denn außer Lucy gehörte nur Dagger seit Dannys erstem Tag zu der Bande. Irgendwann musste ihm in den Sinn kommen, die Jahre zu zählen –
und dann würde er sich fragen, warum ein einundzwan-zigjähriger Mann immer noch das Gesicht eines zwölf-jährigen Jungen hatte.
Dagger selbst war inzwischen um die Dreißig und immer noch der Anführer einer Horde Waisenkinder. Er hätte etwas anderes machen können. Das taten die meisten von ihnen, wenn sie auf die Zwanzig zugingen, weil sie dann mehr wollten, als sie bei der Bande bekamen.
Sie wollten behalten dürfen, was sie gestohlen hatten, und nicht alles Dagger geben, damit er etwas zu essen kaufte, die Miete bezahlte und gelegentlich irgendeinen Schnickschnack mit nach Hause brachte, um einen von ihnen bei Laune zu halten. Dagger hätte sich ebenfalls einträglicheren Verbrechen zuwenden können, doch das hatte er nie getan.
Er meinte es gut, auch wenn er sie nicht mit Samthand-schuhen anfasste. Danny hatte schon Vorjahren erkannt, dass irgendwo unter seiner rauen Schale ein weicher Kern steckte. Wahrscheinlich glaubte er, als Anführer hart und unnachgiebig sein zu müssen. Danny vermutete jedoch, dass Dagger sich nicht nur als ihr Anführer fühlte, sondern auch als ihr Vater. Daher war er nicht weitergezogen wie der Rest der Bande. Neue Waisenkinder waren zu ihnen gestoßen, andere gegangen. Nie waren sie viel mehr als etwa zwanzig gewesen, aber auch nie weniger als zehn. Es gab immer irgendjemanden, um den man sich kümmern musste.
Die oberste Regel der Bande lautete, Angehörige der gehobenen Gesellschaft nie in ihren Häusern auszurauben. Das war
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