Malory
Danny, es würde helfen. Doch es half nicht. Dagger schaute das Geld kaum an, und sie erkannte zu spät, dass es nun so aussah, als hätte sie absichtlich gegen die Regeln verstoßen.
»Kann ich’s dir erklären, Dagger?«, fragte sie. »Hab nicht groß die Wahl gehabt, seit ich gestern von hier weg bin.«
»Ich weiß, dass sie dich geschnappt haben, aber ich weiß auch, dass du nicht eingelocht worden bist.«
»Trotzdem war’s eine Falle. Sie wollten einen Dieb, der für sie was klaut.«
»Warum hast du nicht nein gesagt?«
»Was glaubst du, warum sie mich gefesselt da rausge-schleppt haben?«, konterte Danny.
»Aber du warst nicht die ganze Zeit gefesselt, oder?«, fragte Dagger mit bedeutungsvollem Blick auf die Geldscheine. »Du hättest abhauen können.«
Das stimmte. Müde erklärte Danny: »Dann hätte ich irgendwo in der Walachei gehockt. Keine Ahnung, wann ich zurück nach London gefunden hätte.«
»Du hast London verlassen!«
Danny zuckte zusammen, als er sie so anbrüllte. »Deshalb hab ich ja nicht versucht, früher abzuhauen. Ich war vorher noch nie aus London raus. Wahrscheinlich hätte ich eine ganze Woche gebraucht, um wieder nach Hause zu kommen. Aber sie haben mir geschworen, sie bringen mich wieder her, wenn ich den Lord für sie ausgeraubt hab.«
»Einen Lord!«, brüllte Dagger noch lauter als vorher.
»Und dann auch noch in seinem verfluchten eigenen Haus, nehme ich an?«
An dieser Stelle hätte Danny lügen können, lügen sollen. Immerhin ging es hier um die alleroberste Regel.
Doch aufgrund der Fragen, die Dagger bisher gestellt hatte, war ihr klar, dass es nicht den geringsten Unterschied gemacht hätte.
»Pack deinen Kram und verschwinde. Das war das letzte Mal, dass du gegen unsere Regeln verstoßen hast.«
Danny rührte sich nicht. Sie hatte gewusst, dass sie so etwas zu hören bekommen würde, ganz egal, was sie sagte. Auf das beklemmende Gefühl in der Brust und den Kloß im Hals war sie trotzdem nicht gefasst gewesen.
Fünfzehn Jahre lang hatte Dagger für sie ein Teil ihrer
»Familie« ausgemacht. Dass er nun wollte, dass sie fortging, tat am meisten weh.
Sie würde nicht weinen. Schließlich war sie für Dagger und die anderen keine Frau, die das gedurft hätte. Sie war auch kein Kind mehr. Hier galt sie als Mann, und ein Mann weinte nicht. Da sie jedoch die Tränen nicht zu-rückhalten konnte, stolperte sie hastig aus der Küche, bevor Dagger etwas merkte.
Schnurstracks ging sie zu ihrer Schlafmatte im Wohnzimmer. Sie gehörte ihr; sie würde sie also zusammenrol-len und mitnehmen, auch wenn sie noch keine Ahnung hatte, wo sie das gute Stück als Nächstes ausrollen würde. Daneben lag ihr Kleidersack, der nicht sehr groß war. Was sie heute am Leib trug, waren ihre Lieblings-sachen, die sie täglich anzog. Nur wenn sie gewaschen werden mussten, schlüpfte sie in die einzigen anderen Klamotten, die sie besaß. Ihr kleines Haustier saß in seinem Kistchen, das sie mit in den Kleidersack stopfte, um es besser tragen zu können.
Die beiden Kinder, die noch geschlafen hatten, saßen nun auf ihren Schlafmatten und weinten sich die Augen aus. Danny blieb bei ihnen stehen, um jedes in den Arm zu nehmen. Normalerweise hätte sie versucht, die Kleinen aufzuheitern, doch da sie durch den Kloß in ihrem Hals immer noch kein Wort herausbrachte, versuchte sie es gar nicht erst.
Als sie die Tür öffnete, standen dort all die anderen Kinder in einer Reihe; die meisten von ihnen weinten ebenfalls. Sie hatten an der Tür gelauscht und wussten daher, dass sie Danny nicht Wiedersehen würden. Es brach ihr das Herz. So lange Zeit war sie für die Kinder der große Held gewesen. Wahrscheinlich wären sie mit ihr gegangen, wenn sie nur ein Wort gesagt hätte. Doch das konnte sie Dagger nicht antun, auch wenn er ihr gegenüber so herzlos gewesen war. Die Kleinen waren alles, was er hatte.
Danny riss sich von ihnen los und lief die Straße hinunter.
Es war eine Ironie des Schicksals, dass sie schon seit Jahren hatte gehen wollen, um eine richtige, eine an-ständige Arbeit zu finden und nie wieder stehlen zu müssen. Dagger zwang sie nun regelrecht dazu, ihren Traum früher als erwartet zu verwirklichen. Hoffentlich würde sie ihm eines Tages dafür dankbar sein können, und hoffentlich tat es nicht zu lange weh.
Die Erinnerung daran, dass sie doch genau das gewollt hatte, half nicht gegen den Schmerz. Danny hatte in ge-genseitigem Einvernehmen fortgehen wollen, damit sie danach
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