Malory
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Gleich das erste Fest? Gabrielle hatte seit ihrer Ankunft im Stadthaus der Malorys kaum Zeit gehabt, sich zu erholen. Ih-re Nervosität hatte sich während des Gesprächs mit James und Georgina Malory zwar etwas gelegt, war jedoch nicht gänzlich verschwunden. Und da erwartete man von ihr, dass sie heute Abend schon ein Fest besuchte?
Nachdem man ihr ein Zimmer im ersten Stock zugewiesen hatte, war sie nur hin– und hergelaufen, bis Margery einige Stunden später eintraf. Da sie am Morgen keine Kutsche gefunden hatten, die für alle groß genug gewesen wäre, hatte die Haushälterin es vorgezogen, im Gasthaus zu warten und spä-
ter mit Miss Carla und dem Gepäck nachzukommen.
Gabrielle vermisste Ohr und Richard bereits. Die beiden hatten nicht vorgehabt, mit ihr im selben Haus zu wohnen, sie sollten lediglich sicherstellen, dass sie freundlich aufgenommen wurde. Malory hatte ihnen allerdings sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie alles andere als willkommen waren. Ihre Freunde würden sie jedoch nicht ganz allein lassen, sondern nur in eine andere Gegend ziehen. Dem ursprünglichen Plan nach sollten sie in England bleiben, bis Nathan eintraf. Daher sollten Ohr und Richard in der Nähe des Hafens eine Wohnung nehmen, in der sie die Ankunft der Crusty Jewel abwarten konnten. Sie vermutete, ihr Vater hatte ihnen schlicht befohlen, vor Ort zu bleiben, um ein Auge auf sie zu haben.
Derartige Kleinigkeiten regelte ihr Vater, ohne ihr etwas davon zu sagen, obwohl sie ihm meist auf die Schliche kam.
Seine überbesorgte Art hatte sie überrascht, er war sogar so weit gegangen, sich im Laufe der Jahre regelmäßig darüber berichten zu lassen, wie sie aufwuchs und welche Fortschritte sie machte. Der Gärtner ihrer Mutter hatte in Nathans Diensten gestanden. Kein Wunder, dass der alte Mann sie stets ausführlich über ihre Pläne befragt hatte!
Als Nathan die Sache mit dem Gärtner gestanden hatte, war Gabrielle bewusst geworden, dass er auch über die Affäre ihrer Mutter informiert gewesen sein musste. Er sagte zwar nichts, und sie wollte auch nicht davon anfangen, doch sie hatte deswegen monatelang ein schlechtes Gewissen gehabt und vermutete, dass ihr Vater seinem Papagei die abfälligen Bemerkungen über Carla erst beigebracht hatte, nachdem er von der Untreue ihrer Mutter erfahren hatte.
Als Margery eintraf, begleitete Georgina Malory sie nach oben, um Gabrielle mitzuteilen, dass sie noch am selben Abend an einer Soiree teilnehmen würden, die ihre angeheiratete Nichte gab. »Ich wollte eigentlich nicht hingehen«, gestand die Lady. »Wenn sie in London ist, gibt Regina so viele Feste, dass ich es nicht für nötig halte, alle zu besuchen. Aber zufällig sind meine beiden Brüder Drew und Boyd zu Besuch in der Stadt und sie würden eine feine Eskorte abgeben. Da ha-be ich mir gedacht, das wäre für Sie genau die richtige Gelegenheit, bildlich gesprochen, den Zeh ins Wasser zu tauchen.
Also werden wir hingehen.«
Gabrielle hätte es vorgezogen, die Füße im Trocknen zu behalten, doch sie war zu wohlerzogen, um das zu sagen. Sie hätte mehrere perfekte Ausreden gehabt, wie etwa die, noch keine passende Garderobe zu besitzen und von der Reise erschöpft zu sein, aber sie führte sie nicht an. Sie hatte dieser netten Dame mit ihrer Anwesenheit bereits genug Unan-nehmlichkeiten bereitet. Daher war Gabrielle fest entschlossen, keine weiteren Umstände zu machen.
»Ihre Brüder wohnen nicht in London?«, fragte sie.
»In London? Du meine Güte, nein, nicht einmal in England. Die Heimat unserer Familie liegt in Connecticut, aber eigentlich könnte man sagen, in Wahrheit leben all meine fünf Brüder auf See. Meiner Familie gehört die Skylark-Reederei und jeder meiner Brüder befehligt ein eigenes Schiff.«
Seemänner, dachte Gabrielle leicht amüsiert. Nicht einmal in England kam sie von ihnen los. Doch wenigstens waren die zwei aus Georginas Familie nur zu Besuch. Vielleicht würden sie ihr sogar gefallen. Sie wollte zwar nie einen heiraten, doch trotzdem hatte sie viel mit ihnen gemeinsam.
»Wegen der Soiree heute Abend«, sagte Gabrielle. »Ich ha-be ein Kleid, das eventuell passend wäre, aber ich werde morgen zu einer Schneiderin gehen müssen. Das Geld für die Aus-stattung für eine Saison habe ich dabei, daher sollte ich wohl möglichst rasch Maß nehmen lassen.«
»Ganz meine Meinung und Sie müssen auch gar nicht bis morgen warten. Ich werde noch heute nach meiner Schneiderin schicken. Sie
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