Malory
gestern Nacht vorgefallen ist?«
»In der Tat. Ich bin bei diesen Barbaren, die ich gezwunge-nermaßen als Verwandte bezeichnen muss, stets auf das Schlimmste gefasst, doch Georgie ist ziemlich aufgebracht. Sie erwartet doch tatsächlich von ihren Brüdern, dass sie sich wie Gentlemen benehmen. Ich sorge jedenfalls dafür, dass Drews Dummheit keine Auswirkungen haben wird, darauf können Sie sich verlassen. Ich werde gewissermaßen in den sauren Ap-fel beißen und Sie und Georgina für den Rest der Saison begleiten.«
Gabrielle war erstaunt und gerührt, dass er so weit gehen wollte, denn sie wusste, wie sehr er das gesellschaftliche Treiben hasste. »Das müssen Sie nicht.«
»Aber ich will. Betrachten Sie es doch einfach folgender-maßen: Wenn es Ihren Vater nicht gegeben hätte, wäre ich jetzt nicht hier, meine Kinder wären nicht hier und George wäre nicht die glücklichste Frau auf diesem Planeten.«
James sagte das mit einem so freundlichen Lächeln, dass Gabrielle nicht anders konnte, als es zu erwidern. Ihr ging auf, dass der Dank, den er ihrem Vater schuldete, ihm wichtiger war, als sie gedacht hatte.
»Nun, wenn Sie es so sehen ...«
»Genau. Aber nun gehen Sie. Ich glaube, ich habe gehört, dass einer Ihrer Verehrer zu Besuch gekommen ist.«
Gabrielle hätte ihm erklärt, dass ihr Besucher nicht zu ihren Verehrern zählte, doch James hatte sich bereits zur Treppe umgewandt, und sie hatte den jungen Mann lange genug warten lassen. James hatte es geschafft, sie ein wenig aufzuheitern, und ihr Besucher würde sie die letzte Nacht sicher ganz vergessen lassen.
»Avery! Wie schön, Sie wiederzusehen!«
Mit ausgestreckter Hand ging Gabrielle auf den ehemaligen ersten Offizier zu. Doch das nahm Avery gar nicht wahr, denn er konnte den Blick gar nicht von ihrem Gesicht losrei-
ßen. »Großer Gott, ich erkenne Sie kaum wieder, Miss Brooks. Ich wusste zwar, dass aus Ihnen einmal eine Schönheit werden würde, aber Sie haben meine Erwartungen weit übertroffen.«
Das Kompliment ließ Gabrielle erröten und Averys Gesichtsausdruck machte sie noch verlegener. Avery wirkte völlig ungläubig – und entzückt.
»Sie sehen auch sehr gut aus, Avery. Aber woher wussten Sie, wo ich zu finden bin?«
Nun wurde Avery dunkelrot. »Ich bringe Ihnen leider schlechte Nachrichten.«
Gleich dachte Gabrielle an ihren Vater, doch um ihn konnte es nicht gehen. Nachdem sie die Pirateninsel verlassen hatte, hatte sie darauf bestanden zu erfahren, was mit Avery geschehen war. Ihr Vater hatte ihr versichert, dass er ausgelöst und kurze Zeit später nach England zurückgeschickt worden sei, um sich eine weniger »aufregende« Beschäftigung zu suchen.
Daher konnte Avery nichts von Nathan wissen. Und er hatte ihre Frage auch noch gar nicht beantwortet. Wie hatte er sie gefunden und wie konnte er überhaupt erfahren haben, dass sie in London war, wenn er nicht in ihren Kreisen verkehrte?
Vielleicht hatte er sie zufällig irgendwo in der Stadt gesehen. Zweimal war sie im Park ausgeritten, an einem Tag hatte sie ein Konzert besucht und gelegentlich war sie sogar mit Margery auf der Bond Street einkaufen gewesen. Zudem war sie letzte Woche in den ärmeren Teil der Stadt gefahren, um Richard von Malorys mörderischen Absichten zu berichten.
Also konnte Avery sie überall gesehen haben und war ihr wo-möglich einfach zu ihrem Aufenthaltsort gefolgt.
»Was sind das für schlechte Nachrichten?«
»Ihr Name ist heute in aller Munde. So habe ich herausgefunden, dass Sie in der Stadt sind, warum Sie hier sind, und sogar, bei wem Sie wohnen. Die halbe Stadt ist offensichtlich entsetzt, dass ein Pirat versucht, sich durch Heirat in ihre Reihen einzuschmuggeln, während die andere Hälfte der Bewohner bloß über die oberen Zehntausend lacht und das Ganze als einen hübschen Streich betrachtet. Ach, du meine Güte, haben Sie das gar nicht gewusst?«
Gabrielle war derart schockiert, dass sie offenbar leichen-blass geworden war. »Lady Dunstan«, sagte sie tonlos. »Man hat mir versichert, Sie würde nichts von dem verraten, was sie gestern Abend aufgeschnappt hat, doch offensichtlich hält sie es für einen so saftigen Skandal, dass sie es sogar riskiert, James Malorys Zorn auf sich zu ziehen.«
»Davon weiß ich nichts«, sagte Avery. »Von der Dame ha-be ich nie gehört. Ein Wilbur Carlisle erzählt jedem, der es wissen will, dass Sie nicht die sind, für die Sie sich ausgeben.«
Fast hätte Gabrielle laut losgelacht. Wilbur?
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