Maltas Geheimnis
also musste es auch eine Treppe oder Leiter geben, um es wieder zu verlassen. Nur wenige Minuten später hatte sie sogar zwei derartige Möglichkeiten erspäht: Zum einen handelte es sich um eine Dachluke, die irgendwo im Flurbereich des Hauses enden musste, zum anderen um Metallsprossen, die an einer Hauswand eingelassen waren und dort nach unten führten. Sie bezweifelte zwar, dass sie bis zum Boden reichen würden, denn das wäre für potenzielle Einbrecher zu einfach gewesen. Aber auch wenn sie etliche Meter über dem Erdboden endeten, störte sie das nicht - sie hatte ja ihr Seil.
Fünf Minuten später wusste sie, dass sie richtig gelegen hatte. Die letzten Meter ließ sie sich am Seil hinunter und hatte danach wieder sicheren Boden unter den Füßen. Sie war am Rand des Mitarbeiterparkplatzes herausgekommen. Vorsichtig schaute sie sich um: Es war absolut ruhig, nichts bewegte sich. Leicht gebückt laufend verließ sie das Hotelgelände.
Nun stellte sich die Frage, wie sie nach Rabat zu ihren ehemaligen Gasteltern gelangen konnte, ohne dass sie auffiel oder ihr Weg im Nachhinein entdeckt werden konnte. Sie wollte auf keinen Fall diese Leute in Gefahr bringen – und Gefahr lag in der Luft, das spürte sie.
Wie sie es auch drehte – sie würde zu Fuß gehen müssen. Ein Bus fuhr noch nicht und per Anhalter war es zu gefährlich.
- 7 -
Alisha war froh, dass an diesem Tag die Sonne nur in den frühen Morgenstunden zum Vorschein gekommen war. Danach begann es leicht zu regnen und dadurch war es angenehm kühl. So konnte sie durchgehend ihre Kapuze als zusätzliche Tarnung tragen. Allerdings war sie auch gezwungen, ihr empfindliches Instrument unter ihrem Parka verschwinden zu lassen – sie war sich sicher, dass sie jetzt wie eine hochschwangere Frau aussah.
Nach fast fünf Stunden, immer kleine Nebenstraßen benutzend, kam sie endlich in ihrem ehemaligen Wohnort an. Sie fühlte sich völlig ausgepumpt, denn Rabat mit seinen vielen kleinen Geschäften und Handwerksbetrieben lag auf einer Hochebene und der leichte Nieselregen wollte nicht aufhören. Als sie durch die engen Gassen ging, die häufig in einem kleinen Platz endeten, hatte sie ein wenig das Gefühl, wieder nach Hause zu kommen. Sie konnte sich an die Bäckereien, die kleinen Geschäfte und Shops, in denen heimische Handwerksarbeiten angeboten wurden, noch sehr gut erinnern.
Das Haus ihrer Gasteltern befand sich in einer beschaulichen Gasse, die unweit des Stadttores lag, durch das man nach Mdina, der »Stillen Stadt«, in der Autoverkehr verboten war, gelangen konnte.
Als sie an der Tankstelle nahe des Busbahnhofs vorüber kam, waren es nur noch knappe zweihundert Meter bis zu ihrem Ziel. Sie bog mit weit ausgreifenden Schritten um die nächste Ecke und befand sich endlich in der ersehnten Gasse, die allerdings nur so breit war, dass ein Mittelklassewagen und ein Maultier knapp aneinander vorbei passten. Von weitem konnte sie schon das schmale Haus sehen – doch sie blieb wie angewurzelt stehen »Verdammt. Was ist das?«, stöhnte sie auf, machte einen schnellen Schritt in die nächste Häusernische und spähte gebannt die Straße hinunter.
Direkt vor dem Haus der Gasteltern stand ein neuerer Range Rover, an den sich ein Mann lehnte, der sich mit einem älteren Herrn, der im Hauseingang stand, scheinbar angeregt unterhielt. Sie erkannte beide sogleich. Der Mann am Fahrzeug war der bullige Kellner aus dem Hotel und der ältere Herr ihr ehemaliger Gastvater. Das Gespräch schien sich dem Ende zu nähern, denn ihr Gastvater nickte mehrmals und deutete mit der rechten Hand einen Gruß an, indem er zuerst die Stirn, dann den Mund und zuletzt seine Brust berührte. Der Kellner übergab ihm ein kleines Stück Papier, vermutlich eine Visitenkarte. Sie sah, wie er seine Zähne fletschte, als er sich in den Range Rover setzte. Sekunden später war er weggefahren. Ihr Gastvater verschwand wieder in seinem Haus.
»Wenn ich diese Situation jetzt richtig deute, dann soll mein Gastvater umgehend meinen ehemaligen Bewacher informieren, wenn ich hier auftauche«, überlegte Alisha. »Selbst wenn er es nicht tun würde, spätestens wenn ich ihm meine Geschichte erzählt habe, wäre er in großer Gefahr – und das will ich nicht. Verdammt, verdammt, verdammt – nein, das will ich nicht. - Was mache ich denn jetzt?«
Sie drehte sich um und lief durch einige enge Gassen wieder etwas Richtung Südosten, dem anderen Ende der Stadt zu. An einem der zahlreichen
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