Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)
aber nur »Oma« nannten, weil sie erstens die Oma war, die wir jeden Tag sahen, und zweitens, weil unsere Oma mütterlicherseits auch Oma Leni hieß, die wir die Grafinger Oma nannten, weil sie – wer hätte das gedacht – in Grafing lebte. Unseren Großvater väterlicherseits, der – wie könnte es anders sein – Opa Sepp hieß, hatten wir nie kennengelernt, denn er war bereits ein paar Jahre vor meiner Geburt gestorben.
Und somit wären wir bei der einzigen Person, die sich wirklich aus freiem Willen entschlossen hatte, sich unserem Haufen als Familie anzuschließen: dem Bruder meines Großvaters väterlicherseits, also meinem Großonkel Michael. Dieser lebte eigentlich seit Jahrzehnten schon nicht mehr auf dem Hof, da ja sein Bruder, also mein leiblicher Opa, den Hof von seinem Stiefvater übernommen hatte. Der Opa Miche war ein ganz spezielles Kaliber: schwer katholisch zugerichtet und deshalb mit Leib und Seele von Beruf Kirchenmesner in diversen Klöstern, zeitweise sogar in Altötting.
Er hatte zusammen mit den Zwillingsbrüdern Adam und Korbinian schon in ganz jungen Jahren den Hof verlassen, um einen Beruf zu erlernen, und in erster Linie auch, um von seinem latent aggressiven Stiefvater wegzukommen. Der Onkel Miche hat uns Kindern immer erzählt, dass seine Mutter im Leben viel mitgemacht hatte, denn ihr erster Mann war früh gestorben, und der zweite Mann, den sie geheiratet hatte, um den Hof weiterführen zu können, mochte seine Stiefkinder, vor allem auch den Opa Miche, nicht besonders. Bei jeder Kleinigkeit schlug er sofort zu: Wenn seiner Meinung nach eines der Kinder beim Tischgebet die Hände nicht fromm genug faltete oder nicht andächtig genug schaute, setzte es unmittelbar ein paar Watschen, also Ohrfeigen.
Nach all den Jahren konnte ich immer noch seine tiefe Traurigkeit spüren, wenn er schilderte, wie er als Kind mitanhören musste, dass seine Mutter oft in ihrer Kammer laut weinte aus Verzweiflung darüber, dass sie so einen rabiaten Mann geheiratet hatte und es natürlich in der damaligen Zeit aus dieser Situation keinen Ausweg gab. Auch tat es ihr sehr weh, dass einer der Zwillinge, Korbinian, bis nach Kiel ging, wo er als Werftarbeiter tätig war und von wo aus er nie mehr zurückkommen sollte. Denn als er dort von einem großen Eisenhaken erschlagen wurde, war der Stiefvater nicht einmal bereit, die Überführungskosten für den Leichnam zu bezahlen. So wusste die Mutter nicht einmal genau, wo man ihren Sohn begraben hatte. Und sie hätte auch niemals gewagt zu fragen, ob ihr Mann ihr das Geld für die Reise nach Kiel geben würde, denn sie kannte seine Antwort bereits. Heute klingt das alles sehr dramatisch, damals war es aber die ganz normale Lebensgeschichte einer Bäuerin, so wie sie sich bestimmt Hunderte von Malen in Bayern zugetragen hat.
Und natürlich überlebte der rabiate Stiefvater auch noch die Mutter, sodass sogar mein Vater noch, der sich als Kind die Schlafkammer mit dem damals schon betagten Herrn teilen musste, in den Genuss von diversen mittäglichen Watschen kam. Den Dienstboten tat mein Vater immer leid, und deshalb sagten sie immer: »Lauf halt weg, wenn dir der Alte eine schmieren will!«
Mein Vater, der sich bereits in diese für ihn hoffnungslose Situation gefügt hatte, meinte nur lapidar: »Des hilft ja nix, weil auf d’Nacht, in da Schlafkammer, da krieg ich’s ja eh!«
Einmal stand der Alte in der Früh auf und schmierte dem kleinen Josef ohne Ansage eine, worauf dieser beleidigt meinte: »Aber ich hab doch gar nix gmacht!«
»Dann hast halt eine gut!«
Diesen Watschenbonus hatte der Alte allerdings bis zum Abend schon wieder vergessen, sodass der arme Bub vor dem Schlafengehen nochmals in den zweifelhaften Genuss einer erzieherischen Maßnahme ohne erkennbaren Anlass kam.
Aber zurück zum Onkel Miche: Als eingefleischter Junggeselle und Mitglied der marianischen Männerkongregation Altötting stand er Zeit seines Lebens mit dem weiblichen Teil der Bevölkerung auf Kriegsfuß. Was nicht hieß, dass er die Frauen hasste. Nein, das nicht. Zu solchen Gefühlen wäre er gar nicht fähig gewesen, aber er mochte sie nicht besonders, ich vermute, dass er ihnen einfach generell nicht über den Weg traute, bis auf vielleicht den Klosterschwestern, mit denen er zu tun hatte und die er später sehr lobend erwähnte. Nicht nur, weil sie sehr christlich waren, sondern vor allen Dingen auch, weil sie gut kochen konnten. Und das war dem Onkel Miche sehr viel
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