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Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)

Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)

Titel: Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Gruber
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wert.
    Der Miche war bestimmt über dreißig Jahre – wenige Kurzbesuche mal ausgenommen – nicht mehr daheim gewesen, weil er ja als Mesner das ganze Jahr über fest eingespannt war. Einen Führerschein hatte er zwar gemacht, aber gleich bei einer der ersten Ausfahrten verursachte er einen so schweren Unfall, dass es sogar zu einer Gerichtsverhandlung kam, wo der Richter den Miche beschuldigte: »Sie sind ja gefahren wie ein Irrer!« Das war ihm so peinlich, dass er beschloss, nie wieder eines dieser »Höllengefährte« zu lenken. Das Geld, das eine Zugfahrt nach Erding gekostet hätte, das legte er lieber in den Klingelbeutel oder spendete es für arme Kinder in Afrika, denn der Onkel Miche hatte ein großes Herz für die Armen und Schwachen, und darunter durften dann auch Frauen sein.
    Ein triftiger Grund für ihn, wieder einmal heimzukommen, war jedoch die Hochzeit meiner Eltern, denn er war gebeten worden, Trauzeuge meines Vaters zu sein. Obwohl er zwar sonst jedes Zusammentreffen mit dem weiblichen Geschlecht mied wie der Teufel das Weihwasser, war doch eine kirchliche Zusammenführung von Mann und Frau selbst für ihn ein Grund zum Feiern. Außerdem freute er sich auf das opulente Hochzeitsmahl, denn obwohl der Onkel Miche so dünn war wie der Stiel des großen Teiglöffels unserer Mutter, war er in der Lage, aus dem Stand mehr Essen in sich hineinzuschaufeln, als ein John-Deere-Traktor Mais in ein Fahrsilo schieben konnte.
    Und so kam es, dass der Miche die ganze Hochzeitsfeier lang neben meinen Eltern am Brauttisch saß, und er stand neben meinen Eltern auf dem Brautfoto, und er saß auch am Tag nach der Hochzeit bei meinen Eltern und der Oma am Mittagstisch. Und auch am nächsten Tag. Und am übernächsten. Für seinen Aufenthalt hatte er einfach sein altes Zimmer von früher bezogen, denn er wusste: Als unverheiratetes Familienmitglied hatte er quasi eine Art unausgesprochenes Wohnrecht auf Lebenszeit auf dem Gruber’schen Hof. Deshalb hatte man auch trotz eines Generalumbaus des alten Bauernhauses anlässlich der Hochzeit das alte Zimmer vom Onkel Miche genau so gelassen, wie es war, bevor er als Mesner in die klerikale Welt hinauszog: Das Zimmer hatte im Gegensatz zu allen anderen Zimmern im Haus noch den alten, morschen Holzboden, es standen seine alte Bettstatt mit der durchgelegenen Matratze drin und zwei Kleiderschränke, diverse Kasterl und ein Tisch mit einem Stuhl. Der Raum war immer etwas kühl und dunkel, weil er nur ein Fenster zur Nordseite hatte, und wenn man ihn betreten wollte, musste man vorher durch einen Rundbogen gehen, der von zwei roten Stoffvorhängen abgeschirmt war, dann stand man in einer dunklen Nische, von der linker Hand eine Tür in den Speicher führte und geradeaus die Tür mit einem alten Eisengriff in die Kammer vom Onkel Miche.
    Nachdem sich der Miche ein wenig eingelebt hatte und keine Anstalten machte, wieder in sein Mesnerdasein zurückzukehren, fragte meine Mutter meinen Vater irgendwann vorsichtig, wie lang Miche denn gedenke zu bleiben:
    »Bleibt er jetzt länger?«
    Mein Vater: »Mei, ich weiß ned so genau.«
    »Ja, muss er ned wieder zurück in die Arbeit?«
    »Ich glaub, der is’ scho in Rente.«
    (Pause)
    »Ja, mecht er dann ganz dableibn?«
    »Naa – der sucht sich bestimmt demnächst a Wohnung.«
    »Meinst?«
    »Freilich. Geld hat er ja, weil er is ja so sparsam und hat nix braucht außer des, was er gespendet hat.«
    »Ja, wenn du meinst, dass er geht.«
    »Der geht scho.«
    Er blieb. Dreiundzwanzig Jahre lang. Und die Mama hörte irgendwann auf zu fragen, wie lang er denn bleiben wolle, und fügte sich in ihr Schicksal: klaglos, pragmatisch und ohne an sich selbst zu denken. So, wie es die Frauen auf dem Land früher eben machten. Die Frage »Will ich das wirklich?« wurde nie gestellt. Es gehört gemacht, was halt gemacht gehört. Wir Kinder hatten ja unseren echten Opa nie kennengelernt und nannten deshalb den Onkel der Einfachheit halber – und in Ermangelung eines Großvaters – eben »Opa«.
    Und der Opa war immer da: Er stand jeden Morgen auf und machte sich seinen Malzkaffee mit viel Milch und Zucker und schnitt sich eine dicke Scheibe Brot ab, die er mit Butter und reichlich selbst gemachter Marmelade bestrich. Lieber war ihm allerdings, wenn es noch Kuchen vom Vortag gab oder einen Hefezopf oder Schmalzgebackenes. Wenn das Gebäck schon älter war, störte es ihn auch nicht, denn er riss es einfach in große Stücke und versenkte es in der

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