Man tut, was man kann (German Edition)
diesem Abend nicht um ein Rendezvous handeln. Jetzt ist sie einerseits zum Flirten aufgelegt, andererseits hat sie rasch erkannt, dass mir dieser Abend mehr bedeutet, als ich zugeben würde. Entweder spielt sie also mit dem Feuer, oder sie hält mich für einen Ehrenmann, der die Situation sowieso in keinem Fall ausnutzen würde. Fairerweise müsste ich ihr eigentlich sagen, dass die Bezeichnung «Ehrenmann» auf mich etwa so zutrifft wie der Titel «Bischof von Rom».
Im speziellen Fall beschließe ich jedoch, zumindest für diesen Abend das zu tun, was ein Ehrenmann tun würde. Iris hat mir gleich bei unserer ersten Begegnung zu verstehen gegeben, dass sie nicht an einer Affäre und erst recht nicht an einer Beziehung mit mir interessiert ist. Sie hat sich bereits für einen anderen entschieden, und diesen anderen wird sie sehr bald heiraten. Selbst die Tatsache, dass sie sich auf einen Flirt einlässt, sollte mich nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich mir einen sehr großen Korb einhandeln würde, wenn ich ihr Verhalten missverstünde und in die Offensive ginge. Mein Projekt Ehrenmann beinhaltet deshalb, dass ich nicht nach ihren Hochzeitsplänen und nicht nach ihrem Zukünftigen frage, sondern ihr einen angenehmen und unkomplizierten Abend beschere, was natürlich auch heißt, dass ich mit ihr flirten, sie aber definitiv nicht anbaggern werde.
Während wir die Austern schlürfen, unterhalten wir uns über die Bretagne, über Paris, den Louvre, die Mona Lisa, den entsprechenden Film mit Julia Roberts, über Hollywood insgesamt, über Philip Seymour Hoffman, seine Darstellung des Truman Capote und dessen «Frühstück bei Tiffany».
Dann sind wir auf den Geschmack gekommen und bestellen erneut ein halbes Dutzend Austern, nebenbei steigen wir um von Crémant auf Weißwein. Holly Golightly führt uns zum Thema New York, was uns zu einer sehr unvollständigen Liste der großartigsten Städte der Welt bringt, gefolgt von einer ziemlich vollständigen Liste der Städte, die man noch gesehen haben müsste, um die erste Liste kompetent vervollständigen zu können. Ich kann beisteuern, dass Detroit definitiv nicht sehenswert ist.
Als wir überlegen, ob wir noch ein weiteres halbes Dutzend Austern bestellen oder jetzt mal anderen Angeboten der Karte eine Chance geben wollen, mischt sich der Kellner ein und erklärt, wir hätten vielleicht gleich zu Beginn des Abends die Meeresfrüchteplatte für zwei Personen nehmen sollen, da wären dann unter anderem auch ein Dutzend Austern drauf gewesen. Der Versuch, die Meeresfrüchteplatte dann jetzt, aber eben ohne Austern zu bestellen, sorgt für längere Diskussionen zwischen Service und Küche. Worum sich der Streit dreht, ist aus der Ferne nicht auszumachen. Iris und ich rätseln angestrengt, uns will aber partout kein Grund einfallen, warum es ein Problem sein könnte, eine Meeresfrüchteplatte ohne Austern zu servieren.
Schließlich kommt der Küchenchef höchstpersönlich an unseren Tisch und erklärt leicht aufgebracht und mit breitem französischem Akzent, dass die Meeresfrüchteplatte den Höhepunkt seines kulinarischen Schaffens bilde, weshalb sie auch ein kompositorisches Meisterwerk sei. Nehme man nur eine einzige Zutat von der Platte, entferne man auch nur eine köstliche Wellhornschnecke, eine exquisite Venusmuschel oder eine zarte Crevette, dann zerstöre man das gesamte Kunstwerk. Das Weglassen sämtlicher Austern käme insofern einem Akt der Barbarei gleich, am ehesten wohl vergleichbar mit dem Auseinanderreißen einer glücklichen Familie.
Der Küchenchef hat sein flammendes Plädoyer beendet. Offenbar ist er ein kleiner Mann mit einem großen Herzen, denn obwohl er neben unserem Tisch steht, bin ich sitzend mit ihm auf Augenhöhe. Schwer atmend, was ich aber mehr seiner Leibesfülle und weniger seiner Empörung zuschreibe, wartet er nun darauf, dass wir geeignete Vorschläge machen, um die drohende kulinarische Katastrophe abzuwenden.
Ich sehe eigentlich keine andere Möglichkeit, als ein weiteres Dutzend Austern in Kauf zu nehmen und den bislang schönen Abend mit einer weniger schönen Eiweißvergiftung zu beschließen. Iris sieht das ähnlich, hat dann aber einen rettenden Einfall. Ob es die Meeresfrüchteplatte vielleicht auch für eine Person gebe, fragt sie. Der Küchenchef strahlt. «Bien sur, aber natürlich!» Und ob er Probleme damit habe, wenn wir uns diese Portion teilten, will sie wissen. Er winkt ab. «Non, non, c’est bon. Pas de
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