Manche Maedchen muessen sterben
Aufregendes passiert. Der September geht in den Oktober über; die Blätter werden gelb, das Wetter wird noch kälter, und für meine Freunde und meine Familie geht das Leben weiter. Irgendwie. Richie läuft immer noch jeden Morgen. Er geht immer noch zu Alex’ Elternhaus und starrt es lange Zeit an, ohne irgendetwas zu begreifen.
Er besucht mein Grab. Er sagt nicht viel, aber manchmal setzt er sich auf die Erde und lehnt sich gegen meinen Grabstein, der sechs Wochen nach meinem Tod endlich aufgestellt wurde. Dann hält er sich daran fest, als würde er mich in seinen Armen halten. Er denkt, ich sei in der Erde, unter ihm, obgleich ich direkt neben ihm bin.
Ich habe eine Menge Besucher; hin und wieder kommt mein Vater vorbei, wenn er nicht gerade lange Zeitspannen auf dem Boot verbringt. Mein Grab liegt neben dem meiner Mutter. Ihr Grabstein ist groß, mit kunstvollen Meißelarbeiten an den Rändern, und darauf steht:
Analisa Ann Valchar
Geliebte Mutter und Gattin
1968 – 2001
Mein Vater hat schon vor Jahren aufgehört, Blumen auf ihr Grab zu legen. Nach seiner Heirat mit Nicole hatte ich den Eindruck, als wolle er in jeder Hinsicht mit seinem Leben weitermachen; die einzigen Erinnerungen an sie, die er behielt, waren das Haus und das Boot.
Mein Grabstein, der jetzt seinen Platz gefunden hat, ist mit sentimentalen Geschenken geschmückt. Der Stein selbst ist groß, größer als der meiner Mom, und mit einer gemeißelten Efeuborte versehen; mein Name ist in geschmackvoller, kursiver Schreibschrift gehalten. Selbst so viele Wochen nach meiner Beerdigung ist meine Grabstätte noch immer das reinste Blumenchaos. Wäre ich – was mich selbst ein bisschen überrascht – nicht so erfreut über den Anblick, dann wäre mir das Ganze fast peinlich. Es scheint, als wäre ich selbst im Tode noch unglaublich beliebt.
In der ganzen Zeit, die wir zusammen auf dem Friedhof verbringen – es scheint ein passender Ort für uns zu sein –, sehen Alex und ich eine Menge Trauernder kommen und gehen. Seine Eltern statten seinem Grab einmal in der Woche einen Besuch ab, jeden Sonntag nach der Kirche. Und mir wird ein beinahe steter Strom von Besuchern zuteil: Kids aus der Schule, mit denen ich flüchtig bekannt war, tauchen auf, um Blumen auf mein Grab zu legen. Einige von ihnen lassen törichte Dinge wie Teddybären und Luftballons da. An einem Tag während des ersten Cross-Country-Wettkampfs der Saison lassen meine Teamkameraden (die mich zu Lebzeiten nicht mochten, aber jetzt, da ich tot bin, ihrer Trauer mit Begeisterung freien Lauf lassen) ein Paar zu einer Schleife gebundener Schnürsenkel auf meinem Grab zurück. Alle paar Wochen kommt Mr. Riley vorbei und spricht ein Gebet. Mera und Topher kommen stets gemeinsam, und Mera ist jedes Mal ein heulendes Elend, wenn sie wieder gehen.
Karen Riley besucht mein Grab nur einmal, Mitte Oktober. Sie bringt Hope mit. Das kommt mir ausgesprochen morbide vor; wer um alles in der Welt nimmt ein Kleinkind mit auf den Friedhof? Doch das kleine Mädchen beschäftigt sich damit, zwischen den Gräbern umherzulaufen, während ihre Mutter an meiner Grabstätte steht und wortlos zu Boden starrt. Sie hat keine Blumen mitgebracht und bleibt auch nicht lange. Wie üblich hat sie kein Make-up aufgetragen; ihr Haar ist zu einem losen Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt verwaschene Jeans, die ein paar Zentimeter zu kurz sind, so dass sie ein Paar schlichter weißer Socken enthüllen, die aus ihren flachen Turnschuhen hervorlugen. Einen Moment kniet sie vor meinem Grabstein, berührt ihn, fährt mit den Fingern über die Buchstaben, fast, als wolle sie sicherstellen, dass ich tatsächlich dort unten liege.
Dann, noch immer kniend, presst sie ihre Handflächen fest gegen die Erde. »Ich hätte freundlicher zu dir sein sollen«, flüstert sie. Sie wirft einen Blick zu ihrer Tochter hinüber, die eine Motte im Kreis um einen frischen Grabhügel jagt. Hope ist groß und schlaksig, genau wie ihr Vater. Sie hat bereits seidiges, blondes Haar und perfekte, blaue Augen. Eines Tages wird sie ein richtiger Hingucker sein. Ich nehme an, dass Karen Riley das bereits weiß.
Karen weint ein bisschen. »Du warst noch ein kleines Mädchen«, sagt sie. »Verzeih mir, dass ich dich gehasst habe.«
Nachdem sie gegangen ist, schweigen Alex und ich lange Zeit. Früher war dies meine Lieblingsjahreszeit. Der Herbst bot stets perfektes Laufwetter: gerade kalt genug, die Luft klar und frisch, und ich liebte es, wie
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