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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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durchnässt wird. Sobald sie fertig ist und sich einen Pferdeschwanz gebunden hat, sieht sie mich an, verdreht ein wenig die Augen und sagt: »Na schön. Dann los.«
    Wir steigen aus dem Auto. Wir sind ungefähr eine Viertelmeile vom Mystic Market entfernt, der nachts geschlossen hat. Um uns herum nichts als Wald, eine sturmgepeitschte, zweispurige Straße und der Regen.
    »Mach den Motor aus«, weist Josie mich an. Der Regen ist jetzt so heftig, dass es keinen Sinn hat, auch nur zu versuchen, halbwegs trocken zu bleiben; wir sind beide augenblicklich pitschnass. »Schalt die Scheinwerfer aus.«
    Ich greife in den Wagen und tue, was sie sagt. Anschließend fische ich die Taschenlampe aus dem Handschuhfach.
    Ich deute auf die Bäume. »In diesen Schuhen kann ich da nicht rausgehen. Die haben dreihundert Dollar gekostet.« Ich blicke finster drein. »Der Schlamm würde sie ruinieren.«
    »Zieh sie aus«, sagt Josie.
    Ich ziehe eine Schnute. »Aber dann werden meine Füße ganz dreckig.«
    Sie blickt frustriert zum dunklen Himmel empor; Regen rinnt ihre Wangen hinab. »Was soll das Ganze, Liz? Du warst diejenige, die aussteigen wollte. Also, willst du jetzt nachsehen, oder willst du nicht nachsehen? Entscheide dich. Mir ist kalt.«
    Ich leuchte mit der Taschenlampe zwischen die Bäume. Der Lichtstrahl ist kläglich; ich kann nichts weiter sehen als schwach erhellte Bäume.
    »Wenn ich tatsächlich ein Reh angefahren habe«, sage ich zu ihr, »kann ich jetzt vermutlich sowieso nichts für das arme Tier tun. Richtig?«
    »Warte mal«, sagt sie und sieht sich meinen Wagen an. »Oh, wow. Sieh dir das an.«
    Also habe ich irgendetwas angefahren, in Ordnung. Auf der rechten Seite meines vorderen Kotflügels ist eine Beule.
    »Kein Blut«, sagt Josie. »Das ist ein gutes Zeichen, richtig?« Sie sieht mich in der Dunkelheit eindringlich an. »Aber möglicherweise hat der Regen es auch weggewaschen.«
    »Ich glaube, ich muss schon wieder kotzen«, informiere ich sie.
    »Nein, musst du nicht.« Jetzt ist ihre Neugierde geweckt. Sie will wissen, was passiert ist. »Komm mit, Liz. Wir sollten rausfinden, was du angefahren hast.«
    Mit offenkundigem Widerwillen ziehe ich meine Stöckelschuhe aus, stelle sie vor dem Fahrersitz auf den Boden, und dann gehen wir beide auf den Wald zu. Wir sind noch keine zehn Schritte weit gekommen, als wir beide abrupt stehenbleiben. Neben meinem lebendigen Ich stehend, verharre ich ebenfalls.
    »Oh mein Gott«, sage ich. »Josie. Wo ist dein Handy?«
    Im schmalen Strahl meiner Taschenlampe dreht sich im strömenden Regen ein Fahrradreifen auf seiner Hinterachse. Alle drei laufen wir darauf zu. Ich kann mir vorstellen, dass ich – barfuß, wie ich bin – spüre, wie die Steinchen und Zweige auf der Erde in meine Füße schneiden, doch das ist mir offensichtlich gleichgültig. Mein Atem, hörbar trotz des Sturzregens, klingt scharf und panisch. Jetzt wirke ich kein bisschen mehr betrunken.
    Das Fahrrad ist vollkommen verbogen; es liegt umgedreht auf dem Boden, die Vorderseite gegen einen Baum gerammt. Doch vom Fahrer ist nichts zu sehen. Wer auch immer auf diesem Rad saß, befindet sich nicht in meinem Blickfeld.
    Mit einem Mal schwächt sich der Regen zu einem leichten Nieseln ab.
    »Sei leise«, befiehlt Josie. »Horch.«
    Ich weiß, dass das, was ich als Nächstes höre, mich seit jener Nacht in einem fort heimgesucht hat, bloß dass mir das erst jetzt bewusst wird. Noch bevor ich ihn sehe, begreife ich, was passiert ist. Ich weiß es. Es ist weniger ein normales Atemgeräusch, das an mein Ohr dringt, als vielmehr ein feucht klingendes Keuchen. Die Laute eines grässlichen Überlebenskampfes. Ich schaue zu, wie wir dem Geräusch folgen und ihn auf dem Boden finden, seine Gliedmaßen in grausam scheußlichen Winkeln verdreht. Sein Gesicht ist so mit Blut verschmiert, dass ich ihn im ersten Moment überhaupt nicht erkenne. Ich kann seinen Schädel unter dem Haar sehen. Ich kann sein Gehirn sehen.
    »Josie, er atmet noch.«
    Er atmet gerade noch. Seine Augen sind offen. Sie starren zu uns empor – zu mir –, um Hilfe flehend, um Leben, um irgendetwas, das ich ihm vermutlich nicht geben kann.
    »Geh und hol dein Telefon, Josie«, flüstere ich; meine Stimme zittert. »Wähl den Notruf.«
    Er nimmt einen weiteren gequälten Atemzug. Josie wartet. Sie tut nichts.
    »Josie, was soll das? Hol dein Handy!«
    »Liz, wir sind betrunken.« Ihre Stimme klingt flach.
    »Na und?« Meine Stimme bebt vor Panik.

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