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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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maßlos , dass er noch da ist. Es ist, als stecke er immer genau dann voller bohrender Fragen und beißender Bemerkungen, wenn ich gerade diese ganz besondere Abgeschiedenheit genieße, die das Geisterdasein mit sich bringt. Das stille Beobachten. Einen Moment lang bin ich versucht, zu sagen: »Nein, natürlich nicht. Du warst nicht beliebt.« Aber ein so gemeiner Mensch bin ich nun auch wieder nicht; zumindest jetzt nicht mehr. Wenn ich zu Lebzeiten wirklich so grässlich war, wie Alex behauptet, dann versuche ich mich jetzt, im Leben nach dem Tode, wenigstens zu bessern. Stattdessen sage ich also: »Es war so ähnlich, ja.«
    Aber das war es nicht; nicht genau. Zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass mir blitzartig einige Erinnerungen an die Tage nach seinem Tod kommen. Ich entsinne mich, letztes Jahr zur Schule gekommen zu sein, nachdem Alex getötet worden war. Die Schule tat alles, was von ihr erwartet wurde: Man senkte die Flagge auf Halbmast und stellte eine Handvoll Trauerbegleiter bereit. Sie hielten während der Morgendurchsage sogar eine schulweite Schweigeminute ab. Aber ich erinnere mich auch noch an andere Dinge: an das Rascheln von Jahrbüchern, die an jenem Morgen herumgereicht wurden, aufgeschlagen bei Alex’ Foto aus der zehnten Klasse, so dass sich die Leute konkret vor Augen führen konnten, wen sie da eigentlich betrauern sollten. Und ich entsinne mich, dass die Schweigeminute in meinem Klassenzimmer unterbrochen wurde, als einer meiner Freunde, Chad Shubuck, einen widerlichen, sehr lauten Furz fahren ließ. Fast alle lachten.
    Ich blinzle mich in die Realität zurück, über alle Maßen erleichtert, dass Alex meine Erinnerung nicht mit angesehen hat. Ich empfinde einen Anflug von Mitleid mit ihm.
    Jetzt kann ich Chad Shubuck sehen, der inmitten einer Gruppe von Schülern in der Lobby am Ende des Korridors steht, dort, wo die Schulleitung ein gerahmtes, vergrößertes Bild von mir aufgestellt hat, das für das letzte Jahrbuch gemacht wurde. Es ist ein großartiges Foto von mir. Er schaut mein Gesicht schweigend an, und dann bekreuzigt er sich langsam, als habe er gerade ein Gebet beendet.
    Ich blicke den Gang hinunter, um nach meinen anderen Freunden Ausschau zu halten. Richie steht keine vier Meter entfernt an seinem offenen Spind und starrt den Inhalt an. Er scheint in Gedanken versunken, als Topher und Mera näherkommen, die Hände jeweils in den hinteren Jeanstaschen des anderen vergraben.
    Topher, das Musterexemplar des American Boy , trägt eine rotweiße Football-Highschooljacke über seinem T-Shirt und den Jeans und kaut einen Batzen zweifellos zuckerfreien Kaugummis (er ist besessen von Mundhygiene; immerhin ist sein Vater Noanks angesehenster Zahnarzt und Kieferchirurg). Er lässt ein mitfühlendes Lächeln aufblitzen, das zwei Reihen funkelnder weißer Zähne enthüllt, als er sich gegen einen angrenzenden Spind lehnt.
    »Ist schon verrückt, oder?«, sagt er und fährt sich mit einer Hand durch sein strubbeliges Haar. »Ohne Liz hier zu sein?«
    »Es ist grässlich.« Mera ist mit Sicherheit schon vor Morgengrauen aufgestanden, um ihr Haar zu richten, das zu unzähligen perfekten blonden Ringeln frisiert ist. Ihre Finger sind mit künstlichen Acrylnägeln versehen. »Alle werden wissen wollen, was passiert ist. Und da ich diejenige bin, die sie gefunden hat, werde ich auch alles erzählen müssen.«
    Ich wusste es. Ich wusste , sie würde aus dem Umstand, dass sie mich entdeckt hat, schamlos ausnutzen. Das ist so dermaßen typisch für sie. Ich bin tot , um Himmels willen. Da würde man doch eigentlich annehmen, dass sie ausnahmsweise einmal nicht die Gelegenheit nutzt, sich ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu drängen. Aber nicht Mera.
    »Erzähl ihnen überhaupt nichts. Das Ganze geht keinen von denen etwas an.« Richie streift seine Jacke ab. Darunter trägt er ein abgenutztes Yale-T-Shirt und eine zerknitterte Jeans, die aussieht, als hätte sie zu einer Kugel zusammengerollt wochenlang auf seinem Fußboden gelegen. Sein Haar ist ungekämmt. Unter seinen großen Augen zeichnen sich aufgequollene grauweiße Ringe ab. Richie hat nie übermäßig viel Wert auf sein Äußeres gelegt, doch er ist definitiv viel ungepflegter als sonst. Das scheint ihm allerdings nicht das Geringste auszumachen.
    »Versteh das jetzt nicht falsch, Richie«, sagt Mera, die ihn stirnrunzelnd mustert, »aber du siehst schrecklich aus.«
    An die Innenseite seiner Spindtür ist mit Tesafilm ein Bild von

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