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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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    Richie grinst wieder. »Was glaubst du, mit wem du hier redest, Josie? Ob ich irgendwelches Adderall habe?« Er zwinkert. »Natürlich habe ich etwas davon gebunkert. Warum?«
    »Ich bin auch ziemlich angespannt«, erklärt Josie ihm. »Die Halbjahresprüfungen stehen an, und ich habe drei Projekte, die demnächst fällig sind. Außerdem muss ich für den Geschichtsunterricht ein verfluchtes Diorama basteln.« Sie lässt den Satz einen Moment lang bedeutungsvoll in der Luft hängen. Dann stößt sie ein verächtliches Seufzen aus und sagt: »Ich wette, mir würdest du auch nichts davon geben, oder?«
    Richie und ich halten jetzt Händchen, stehen dicht beieinander und lassen unsere Arme vor- und zurückschwingen, als wir uns allmählich anschicken, in den Unterricht zu gehen. »Doch, sicher«, sagt er. »Warum nicht?«
    Josie wirkt beinahe enttäuscht. »Oh. Okay. Also, kannst du mir das Zeug nach der Schule geben?«
    »Komm schon«, sage ich zu Richie und zupfe an seinem Arm, als ich mich in Bewegung setze, um davonzugehen. »Wir sind schon viel zu spät dran.« Zu meiner Stiefschwester sage ich: »Josie, du musst zu deinem Spanischunterricht.«
    »Warte mal, Josie. Lass uns etwas klarstellen.« Richie grinst sie an, während wir drei gemeinsam den Flur hinuntergehen. »Ich gebe dir gar nichts. Zumindest nicht geschenkt . Du bist eine zahlende Kundin. Zwanzig Mücken pro Pille. Okay?«
    Josie bemüht sich, unbeeindruckt zu wirken, doch ich weiß, dass sie innerlich aufgewühlt ist. »Klar«, sagt sie. »Natürlich.«
    »Sie ist ihm nicht wichtig«, erkläre ich Alex. »Nicht so, wie ich ihm wichtig bin. Siehst du? Mir will er keine Pillen geben, aber ihr würde er sie verkaufen . Er interessiert sich nicht für sie, und das weiß sie verdammt gut.«
    »Ja«, stimmt Alex zu. »Du hast recht.« Er sucht meinen Blick. »Also, was hat sich seitdem verändert? Warum interessiert er sich jetzt für sie?«
    Ich verenge die Augen zu Schlitzen und mustere mein früheres Selbst, das zusammen mit meinem Freund und meiner Stiefschwester lässig auf unsere Unterrichtsräume zuspaziert; Josies und meine Absätze klicken beim Gehen in einem leisen Rhythmus auf dem Linoleum. »Ich weiß nicht recht, wieso«, sage ich zu ihm. »Aber ich glaube, da muss etwas Wichtiges dahinterstecken.«

14
    Den Toten bleibt der Schlaf verwehrt; zumindest gilt das für Alex und mich. Wir verbringen unsere Nächte in schweigsamer Einsamkeit, in unseren eigenen Erinnerungen verloren. Meistens reisen wir gemeinsam in die meinen, aber manchmal gehe ich auch allein, und gelegentlich entgleitet Alex in seine Vergangenheit, obgleich ich ihn kein weiteres Mal darum gebeten habe, ihn begleiten zu dürfen. Abgesehen davon bleibt uns nicht viel anderes zu tun, als darauf zu warten, dass die Sonne aufgeht, damit wir unsere lebendigen Freunde und Familienangehörigen dabei beobachten können, wie sie ihr Leben ohne uns weiterführen. Ich fürchte das Ende jedes Tages, die unausweichliche, stumme Dunkelheit, das Gefühl der Abgeschiedenheit und Verlorenheit, und ich sehne mich nach Schlaf, von dem ich weiß, dass er sich nicht einstellen wird. Zumindest nicht in nächster Zeit.
    Wir haben jetzt Ende September; seit wir Zeugen meiner Konfrontation mit Beth auf dem Mädchenklo wurden, sind zwei Wochen vergangen. Es ist mitten in der Nacht, vermutlich kurz vor der Morgendämmerung. In meinem Zimmer gibt es keinen Wecker mehr, doch nachdem wir so viele Nächte hier verbracht haben, in denen ich nichts weiter tat, als zum Fenster hinauszuschauen, bin ich inzwischen ziemlich gut darin, den Himmel zu deuten und anhand des Mondstandes zu bestimmen, wie weit die Nacht bereits fortgeschritten ist.
    »Da draußen ist jemand«, sagt Alex. Er steht an meinem Fenster und blickt auf die Straße hinunter.
    »Und?« Ich sitze auf dem Boden, neben meinem Haufen alter Laufschuhe. Im Dunkeln wirken sie beinahe lebendig: die Laschen wie Münder, die Schnürsenkel erwartungsvollen Gesichtszügen gleich durch mehrere Augenpaare gezogen. Wir sehen einander an.
    »Es ist dein Freund.« Alex drückt sein Gesicht gegen die Scheibe, als er auf die Straße hinunterspäht. Doch vor seinem Mund zeichnet sich kein Atemkreis auf dem Glas ab. »Vielleicht will er wieder auf deinem Grab schlafen.«
    Ich setze mich aufrecht hin. »Glaubst du?«
    Alex blickt noch einen Moment länger hinaus. »Nein«, sagt er dann. »Er will irgendwo mit seinem Wagen hin.«
    Er hat recht: Sobald Alex und ich

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