Mann Ohne Makel
die Erkenntnis unerträglich, dass die Besitztümer der Juden nicht in deutschem Namen geraubt wurden, sondern von deutschen Finanzämtern, wie das Recht es befahl. Es war der kleine graue Beamte, der nichts als seine Pflicht tat, vor 1945 und danach.
Stachelmann unterdrückte seine Angst und blätterte weiter. Ein Brief fiel ihm auf. Er umfasste vier Seiten. Er schaute sich den Brief flüchtig an, sein Herz begann zu klopfen. Er las die Namen Holler und Enheim. Der Brief stammte vom Hauptamt SS-Gericht, Datum 26. Juni 1941. Er war offenbar eine Antwort auf ein Schreiben von Pohl an Obergruppenführer Friedrich Alpers, den Chef des Hauptamts SS-Gericht. Er nahm die Seiten aus dem Ordner und kopierte sie.
Es klapperte. Stachelmann erschrak, Schweiß auf dem Kopf. Er rannte zum Schalter an der Tür und löschte das Licht. Er zwang sich, ruhig stehen zu bleiben und zu lauschen. Es war nichts zu hören außer dem Summen der Kopiermaschine. Stachelmann schlich zu dem Gerät und schaltete es aus. Eine Stimme, laut, ein Ruf. Ein Betrunkener. Stachelmann öffnete vorsichtig die Eingangstür und schaute hinaus. Eine Person lehnte sich an den Zaun und übergab sich. Zwischen den Auswürfen brabbelte er Unverständliches. Der Betrunkene fiel auf die Knie. Er zog sich wieder hoch am Zaun. In einem Haus gegenüber, im zweiten Stock, wurde Licht eingeschaltet. Eine Stimme ertönte: »Ruhe hier! Sonst hole ich die Polizei!«
»Arschloch!«, dröhnte es zurück. »Komm runter, ich hau dir eins in die Fresse!«
Stachelmann lief zurück in den Kopierraum und legte die Akten an ihren Platz. Soweit es im Dunkeln möglich war, kontrollierte er, ob er den Raum so hinterließ, wie er ihn betreten hatte. Dann stand er wieder vor dem Gebäude. Er tastete nach dem Schließbügel und dem Werkzeug auf dem Boden und dann an der Tür nach den Löchern der Schrauben. Er setzte den Schließbügel an die Tür und schlug die Schrauben vorsichtig mit dem Hammer ein Stück in die Löcher. Dann drehte er die Schrauben fest mit dem Schraubendreher. Es würde kaum halten, aber vielleicht gelang es ihm trotzdem, den Einbruch zu verdecken. Es gab andere Gründe, warum ein Schließbügel nicht mehr hielt. Und warum sollte man an Einbruch glauben, wenn nichts fehlte und keine Spuren zu sehen waren?
Dann sah Stachelmann das Blaulicht. Er kauerte sich neben der Tür an die Wand. Das Polizeiauto fuhr langsam am Zaun entlang. Einige Meter weiter hielt es an, das Blaulicht färbte zuckend den Hof der Kopierfirma. Er hörte den Betrunkenen lallen, die scharfe Stimme eines Polizisten ließ Stachelmann zusammenzucken. Er hörte Türen schlagen, dann fuhr das Polizeiauto weiter. Stachelmann wartete, ob der Wagen wendete und zurückkam, aber das Motorengeräusch entfernte sich, bis es nicht mehr zu hören war.
Stachelmann schlich über den Hof zum Zaun. Er zuckte zurück, roch das Erbrochene. Er hatte keine Wahl, hier war der Zaun niedrig. Er drückte ihn hinunter und verließ den Hof mit einer Rolle über den Zaun. Er landete auf etwas Glitschigem, rutschte aus und fiel der Länge nach in einen Haufen Erbrochenes.
***
Ossi und Carmen kehrten zurück zum Präsidium. In Tauts Zimmer saßen neben dem Chef der Rufbereitschaft die Kommissare Kurz und Kamm und ein älterer Mann in einer abgewetzten schwarzen Lederjacke. Der Mann saß Taut am Schreibtisch gegenüber. Ossi stellte sich in eine Ecke, Carmen setzte sich auf den letzten freien Stuhl. Der Mann an Tauts Schreibtisch lamentierte, als hätte ihm jemand ein Verbrechen vorgeworfen.
»Ich kann doch nicht jedes Mal die Polizei anrufen, wenn ein Fahrgast mein Taxi besteigt.« Er warf die Arme nach oben. Ossi erinnerte er an einen Impressario. Genauso laut, genauso affig.
Taut war die Ruhe selbst. »Nein, Herr Görner, das sollen Sie nicht. Wir machen Ihnen keinen Vorwurf. Wir sind Ihnen dankbar, dass Sie uns helfen wollen. Mit Ihrer Hilfe werden wir den Verbrecher bestimmt fangen.« Es klang so, als erklärte er einem Kind, dass Mama und Papa gleich wiederkommen.
»Das werde ich tun, das ist meine Pflicht als Staatsbürger.« Görner nickte heftig.
»Wir bringen Sie jetzt zu einem Zeichner, der erstellt ein Phantombild nach Ihren Angaben. Mit dem Bild versuchen wir, Ihren Fahrgast zu greifen.« Taut nickte Kurz zu.
Kurz stand auf. »Kommen Sie bitte mit.«
Görner stand auf, beide verließen das Zimmer.
Taut stöhnte. »So ein Schwätzer. Bin mal gespannt, was herauskommt beim Künstler.« Er wandte sich
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