Manöver im Herbst
Jahre alt, aber schmächtig und blaß. Ein Inflationskind, großgezogen mit Milchersatz und Marmelade aus roten Rüben. »Glaubst du wirklich, ich werde sonntags singend hinter einer Fahne hermarschieren und Heil brüllen. Ich? Das glaubst du wirklich?«
»Du wirst müssen.«
»Mich kann niemand zwingen, etwas zu tun, was mir zuwider ist. Und das schon gar nicht.«
»Du wirst es tun!« sagte Schütze hart. Es war wie ein Kommando, aber Amelia überhörte es und schüttelte heftig den Kopf. »Willst du mich unmöglich machen? Soll ich entlassen werden? Willst du mich und die ganze Familie ruinieren?«
»Ich? Weil ich mich nicht zu idiotischen Handlungen zwingen lasse? Wer will mir befehlen, was ich tun soll?«
»Unser Reichskanzler und Führer Adolf Hitler.«
»Dann verzichte ich auf diesen hergelaufenen Vagabunden!« rief Amelia laut.
Schütze zuckte zusammen, als habe man ihn in den Rücken geschossen. Er blickte sich um. Es war niemand in der Nähe, der es hätte hören können.
»Ist dir deine Familie nicht einen Sonntagsmarsch wert?« fragte Schütze leise. Sein Gesicht war wachsbleich. Angst saß ihm im Nacken. Er kannte den Perritzschen Starrsinn … er ging über alle Konsequenzen hinweg. Wenn es sein mußte, übers eigene Leben.
»Was ist denn das für eine Familie, wo alle in verschiedenen Richtungen marschieren?«
»Aber unter einer Fahne.«
»Ich will Ruhe haben. Ich habe meine Wohnung, meine Kinder … für die bin ich auf der Welt. Nicht für einen Adolf Hüter und seine Idee. Du magst ihn anhimmeln … vielleicht gehört das zu den immerwährenden Wandlungen deines Berufes. Ob Müller, Meier, Schulze oder Hitler … wenn einer befiehlt, dann marschiert ihr! Und der, der befiehlt, hat auch immer recht. Du bist nun mal so erzogen worden … aber ich nicht. Ich habe ein Eigenleben, das nicht geregelt wird durch HDVs, Paragraphen und Tagesbefehle. Ich bin ein Mensch, der Freiheit liebt, so wie die Pferde auf unseren Weiden es hatten. Soll ein Mensch jetzt weniger Freiheit haben wie ein Tier? Sollen wir alle hinter einem Leithammel herrennen und im Chore blöken …«
»Amelia«, stotterte Schütze und sah sich wieder um. »Bitte, sprich leiser … wenn du schon solch einen Unsinn sprechen mußt. Neue Zeiten bringen neue Formen der Gesellschaftsordnung. Das Alte war morsch, degeneriert. Es verfaulte uns von innen her. Ein Staat kann aus der Tiefe nur auferstehen durch eiserne Disziplin und dem Zusammenhalt jedes einzelnen von uns. Dazu die Partei, die Organisationen. Darum auch deine Frauenschaft. Wir stehen jetzt alle an der Front – einer Front des Aufbaues und des Friedens. Da muß man auch ab und zu Opfer bringen. Du wirst sehen … du bekommst nette Freundinnen. Ihr werdet Lieder singen, Vorträge hören, Morgenfeiern veranstalten …«
»Ich will meine Ruhe haben, weiter nichts. Gibt es auf der ganzen großen Welt keinen Platz, wo der Mensch wirklich in Ruhe leben kann? Müssen denn überall Ideen die Gehirne verwirren?«
»Kannst du's ändern?« Schütze rückte die Mütze Giselher-Wolframs zurecht. »Schluß jetzt mit diesen sinnlosen Diskussionen. Wir werden uns alle anmelden. Und daß du dich vernünftig benimmst, Amelia. Es geht um mich …«
Sie betraten die Gauleitung, voran Heinrich Emanuel, dann die Kinder, am Ende Amelia, blaß, mit verkniffenem Gesicht. An der Tür zum Parteibüro drehte sich Heinrich Emanuel noch einmal zu ihr um.
»Denk daran, daß es dein Onkel war, der uns in diese Lage gebracht hat …«
Amelia schloß die Augen und nickte. Energisch klopfte Schütze an die Tür, riß sie auf und rief beim Eintreten wie ein helles Kommando: »Heil Hitler!«
Nach einer Stunde war alles vorbei.
Amelia war Mitglied der NS-Frauenschaft. Die Söhne kamen in die Hitlerjugend, Uta-Sieglinde wurde bei den Jungmädeln aufgenommen.
»So, und jetzt kaufe ich euch alle eure Uniformen«, sagte Heinrich Emanuel, als sie wieder vor dem Gauhaus standen. »Ich habe dafür extra mein Gehaltskonto überzogen.«
»Ich trage keine Uniform! Nie!« rief Amelia laut.
»Du bekommst ein Abzeichen, weiter nichts. Es sieht aus wie eine germanische Brosche …«
»Ich werde sie nie tragen …«
»Darüber möchte ich mich mit dir nicht in Gegenwart der Kinder unterhalten«, antwortete Schütze ernst. »Wenn ich das tue, so wird das wohl einen triftigen Grund haben. So gut solltest du mich kennen …«
»Und du bist auch wieder im Recht?« stieß Amelia in eine alte Wunde. Heinrich Emanuels
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