Manöver im Herbst
Gesicht wurde kantig. Er sah über die Kinder hinweg zum Gauhaus. Plötzlich war etwas wie Hilflosigkeit in seinen Augen. Er tat Amelia schon wieder leid. Sie ahnte, was hinter seinen Augen vorging.
»Recht«, sagte er langsam. »Weiß man, was Recht ist, wenn man es von zwei Seiten lesen kann?«
*
Wieder ließ sich Hauptmann Schütze bei General Müller melden. Er legte ihm die Anmeldungen seiner ganzen Familie vor. General Müller sah Schütze aus harten Augen an.
»Na – und? Was soll dieser Massenaufmarsch der Familie?«
»Ich dachte, Herr General …«
»Mit Parteibeiträgen erkauft man bei uns keine Seligkeit. Ihr Großvater mochte mit seiner Wurst noch Kommerzienrat werden … aber monatlich zehn Mark Beitrag reichen nicht für'n Generalstab.«
»Was haben Herr General eigentlich gegen mich?« fragte Heinrich Emanuel mutig. General Müller putzte sich die Nase. Über das Taschentuch hinweg lächelte er Schütze an. Es war ihm ein Vergnügen, auf diese Frage eine Antwort zu geben.
»Wir sind dabei, mit vielen Untugenden aufzuräumen … eine davon ist die Vergeßlichkeit. Wir wollen und wir werden nicht vergessen … Ereignisse, Dinge und Personen … Vor allem Personen, die anscheinend mit der Vergeßlichkeit und dem natürlichen Gehirnverschleiß der Menschen rechnen …«
Mit Angst vollgepumpt, verließ Hauptmann Schütze wieder die Bendlerstraße.
Auf seinem Schreibtisch fand er einen Zettel der Ordonnanz. »Anruf Freiherr v. Perritz aus Trottowitz. 11.23 Uhr. Bittet um Rückruf.«
Heinrich Emanuel rief seinen Schwiegervater an.
»Ja«, sagte er und gab seiner Stimme Halt. »Ich habe es mir überlegt. Vielleicht komme ich noch darauf zurück. Ich will noch einmal versuchen, ob es nicht anders geht …«
»Mit Hinternlecken?« rief der alte Baron.
Distinguiert legte Hauptmann Schütze auf.
Was wissen sie alle, was in mir vorgeht, dachte er. Was wäre ich ohne die Uniform? Millionen sind in ihr und für sie gefallen … wie klein ist da das Opfer, seine Ansicht zu ändern und seinen Charakter zu verfälschen.
Er zerriß den Telefonzettel und drückte auf einen Knopf des Telefons. Aus dem Hörer kam eine schnarrende Frage.
»Feldwebel!« sagte Heinrich Emanuel, »bringen Sie mir sofort die Liste der ausgearbeiteten Mannschaftsmäntel und des Koppelzeuges. Aber sofort!«
»Jawoll, Herr Hauptmann!« brüllte der Feldwebel.
Heinrich Emanuel lehnte sich zurück. Nur die Sache ist verloren, die man aufgibt, sagte Lessing, dachte er.
Er war bereit, nie und nimmer aufzugeben.
11
An einem regnerischen Tage – der französische Ministerpräsident Barthou verhandelte gerade mit dem polnischen Marschall Pilsudski, dem tschechischen Ministerpräsidenten Benesch, dem Rumänen Titulescu und dem jugoslawischen König Alexander über eine Gegenmaßnahme zu Hitlers im Reichstag verkündeten Ostpolitik – bekam die Familie Schütze unerwarteten Besuch.
Onkel Eberhard v. Perritz, der General a.D., stand vor der Tür.
Hauptmann Heinrich Emanuel Schütze, der mit einer leichten Bronchitis seit zwei Tagen nicht zum Dienst gegangen war, sah dem Besuch sehr reserviert entgegen und blickte Amelia, als der Onkel seinen Mantel ablegte, achselzuckend an.
»Liebe Kinder«, sagte General a.D. Perritz freundlich und setzte sich in den Sessel, in dem sonst Heinrich Emanuel immer saß, »ihr werdet euch wundern, warum ich komme?«
»Allerdings.« Hauptmann Schütze knöpfte seinen oberen Uniformkragenknopf zu. »Ich habe im Ministerium schon genug anhören müssen –«
»Heinrich –«, sagte Amelia tadelnd. Sie wurde rot. Sie schämte sich. Eberhard v. Perritz winkte ab.
»Laß ihn nur, Amelia. Unter Soldaten gibt es keine Umschweife. Ich kann mir denken, daß mein Ausscheiden seiner Karriere im Wege steht –«
»Ich habe Mühe gehabt, einen Rutsch aufzufangen.«
»Darf ich fragen, wie?«
»Wir sind alle in die Partei eingetreten –«
»Ach –«
»Ich habe eine Denkschrift verfaßt, die der Führer eigenhändig angenommen hat –«
»Sieh an –«
»Und ich habe mit General Müller Kontakt bekommen –«
»Mit anderen Worten: Du bist zu Kreuze gekrochen.« General a.D. nickte Amelia zu. Sie hatte ihm ein Glas Rotwein hingestellt. Er nippte daran und sah Heinrich Emanuel über den Glasrand hinweg an. »Ist mit den Fackeln am 30. Januar auch aller Charakter verbrannt worden?«
»Ich habe eine Familie«, sagte Heinrich Emanuel steif. Er wußte, was der General a.D. dachte, und er hatte selbst in
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