Manöver im Herbst
Heeresleitung, General v. Fritsch, hatte sofort eingreifen wollen, als das Morden der SS bekannt wurde. Aber Reichskriegsminister General v. Blomberg hatte jede Beteiligung der Reichswehr verboten. Auch als der Mord an Schleicher und Bredow bekannt wurde, hatte Blomberg geschwiegen und seinen Chef der Heeresleitung v. Fritsch in seiner Verzweiflung allein gelassen.
»Eigentlich ist es gut so«, sagte ein Oberst. Er gehörte zur Abwehr und hatte einen Kreis Offiziere um sich versammelt. »Mit der Zerschlagung der SA haben wir von der Reichswehr unseren größten Gegner verloren. Aus allem können wir nur Vorteile ziehen. Dieser 30. Juni 1934 wird die endgültige Stärke der Reichswehr festlegen. Es darf nur eine Exekutive geben: Wir!«
Heinrich Emanuel rannte weiter. In seinem Dienstzimmer saßen neun andere Offiziere. Auch sie diskutierten. Schütze hieb mit der Faust auf den Tisch.
»Es mußte so kommen!« sagte er laut. »Man versucht nicht ungestraft, ein traditionsreiches Heer wie das unsere zu untergraben. Es war eine Säuberung, meine Herren, die längst fällig war.«
»Und General v. Schleicher?« rief ein junger Oberleutnant.
»Warten wir es ab.« Hauptmann Schütze winkte. »Wir haben keine Zeit, um herumzusitzen und uns Gedanken zu machen. An die Arbeit, meine Herren.«
Als er allein war, rief er Amelia an.
»Hast du's schon gehört?« fragte er.
»Eben. Im Rundfunk. Es ist schrecklich. Ich habe solche Angst um Onkel Eberhard …«
»Hm.« Schütze setzte sich. An den Onkel General a.D. hatte er nicht gedacht. Es war leicht möglich, daß auch er bei der Säuberung … Wenn aber Onkel Eberhard ein Opfer des 30. Juni geworden war, dann würde man auch auf den Hauptmann Schütze … Heinrich Emanuel schluckte. Sein Hals wurde plötzlich trocken.
»Ach was«, sagte er rauh. »Mach dir keine Sorgen, Amelia. Ich hätte es bestimmt erfahren …«
»Wann kommst du nach Hause?«
»Ich weiß es noch nicht.«
Er legte auf. Nachdenklich, etwas ängstlich hockte er auf seinem Stuhl. Er wartete. Daß General Müller erschien und ihn verhaftete. Daß die SS ihn mitnahm. Daß man ihn davonjagte. Und er legte sich verzweifelt Worte und Sätze zurecht, mit denen er sich verteidigen wollte.
Die ganze Nacht über blieb er in der Bendlerstraße. Er trank in diesen Stunden eine große Kanne starken Kaffee, bis das Herz ihm bis zum Kehlkopf schlug.
Am Morgen erhielt er den Tagesbefehl Generals v. Blomberg.
»Der Führer hat mit soldatischer Entschlossenheit und vorbildlichem Mut die Verräter und Meuterer niedergeschmettert …«
Das beruhigte Heinrich Emanuel etwas. Er war weder ein Verräter noch ein Meuterer, nur ein kleiner, ganz kleiner Kritiker gewesen. Aber auch dies würde man sein lassen, schwor er sich. Auch Kritik würde man nicht mehr üben. Wer wie Hitler die Macht hat, steht über jeder Kritik. Die Stärke einer Faust ist mächtiger als die Gedanken eines Gehirnes.
Über einen Monat benahm sich Schütze wie ein erschrecktes Mäuslein. Er ließ sich nicht blicken, er fiel nicht auf, er tat still seine Arbeit, er machte keinen auf sich aufmerksam. Er war ein kleines Rädchen in der großen Heeresmaschinerie, das sich lautlos drehte.
Anfangs August – Reichspräsident Generalfeldmarschall v. Hindenburg lag sterbend auf seinem Gut Neudeck – gab der General v. Reichenau einem Reporter der französischen Zeitung ›Petit Journal‹ ein Interview über den Bluttag 30. Juni 1934. Er sagte: »Der Tod Schleichers, unseres früheren Chefs, bekümmert uns tief, aber nach unserer Auffassung hat er schon seit geraumer Zeit aufgehört, Soldat zu sein …«
Hauptmann Schütze verlas dieses Interview vor seinen untergebenen Offizieren und Mannschaften.
»Das ist die Wahrheit, meine Herren!« sagte er mit lauter Stimme. »Wir waren faul bis ins Mark hinein. Und so, wie man Eiterherde wegnimmt und Geschwüre herausschneidet, hat der Führer unsere Nation vor der Verseuchung bewahrt. Hüten wir uns, andere Ideale zu haben als die des aufrechten Soldaten, dessen Leben allein nur dem Volke gilt.«
Einen Tag später starb Hindenburg. Es war der 2. August 1934.
Hitler hielt eine Rede. Er erhob den toten Marschall zum Symbol der Deutschen. Und er ignorierte den letzten Wunsch des Toten, im Park seines Gutes Neudeck begraben zu werden. Schon am Sterbebett hatte er den Wunsch rundweg verweigert. Der berühmte Chirurg Prof. Sauerbruch, der Hindenburg behandelte, erzählte später, Hitler habe zu Hindenburg gesagt:
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