Mappa Mundi
Verzerrung einer Zeitlinie, an die er nie wirklich geglaubt hatte, in die falsche Realität gerissen worden war.
Während man ihm beibrachte, sie sei am Rock Creek Parkway zwischen angeschwemmtem Abfall gefunden worden; während der Fahrt zum städtischen Leichenschauhaus; während der Präliminarien und während der Assistent des Coroners ihm sagte, er solle sich Zeit lassen – Jude hatte nicht einen Augenblick lang geglaubt, dass sie es tatsächlich sein würde. Selbst als er in seiner Unwissenheit nickte und der Assistent das Laken von ihrem Kopf wegzog, hatte er nur die graue Blässe und die purpurroten Lippen einer alten betrunkenen Obdachlosen gesehen, die ihr schreckliches, verlaustes Haar in dicken, verfilzten Dreadlocks trug, das Gesicht zu einem Ausdruck des Selbsthasses verzerrt. Das konnte nicht White Horse mit ihrem hüftlangen, glänzenden schwarzen Haar sein, das so glatt war, dass nicht einmal ein Staubkörnchen daran haften blieb.
Unter ihrer Haut hatten die Brandnarben ein Beige angenommen, das an das Braun von Altersflecken erinnerte. Verglichen mit dem Rest, wirkte das runzlige Narbengewebe gesund. Ihre Augen waren geschlossen. Er wollte hineinsehen und sicher sein, dass sie nicht mehr dort war. Was war darunter? Er wartete, dass sie zu atmen begann.
Der Mitarbeiter des Coroners legte das Laken behutsam nieder. Ihren Kopf ließ er unbedeckt. »Möchten Sie einen Augenblick allein sein?«
Jude nickte, doch er wollte keine weitere Sekunde bleiben. Er wandte sich ab und sagte: »Das ist sie«, dann verließ er das Gebäude, so rasch er konnte, und trat in das helle Sonnenlicht auf der Treppe draußen. Er blies den kühlen, tödlichen Dampf des gefliesten Raumes aus Nase und Mund und saugte die suppig-feuchte Außenluft ein. Mit leeren Augen blickte er auf die Straße und fühlte sich weich in den Knien. Er setzte sich auf die Stufen und legte den Kopf in die Hände.
Vor seinem inneren Auge sah er Tetsuos Katze mit ihren leuchtenden runden Augen. Sie öffnete den Mund zu einer Rosenknospe, und eine Spur aus feinem schwarzem Haar verschwand in ihrem Schlund aus weichen Blütenblättern. Er starrte auf die vorüberfahrenden Autos, um das Bild loszuwerden, doch sein emotionaler Duft verharrte; ein süßlicher, abstoßender Gestank.
Der Assistent kam heraus und bot ihm einen Becher Wasser an. Jude trank ihn leer. Er hatte das Gefühl, nicht zu wissen, wo er war. Die sanfte Membran aus Luft auf seiner Haut war durchstoßen, und nun war er auf der anderen Seite, in einer Stadt, die überall genauso aussah wie die, die er kannte, aber er verstand sie nicht.
»Glauben Sie, Sie können hereinkommen und das Formular ausfüllen? Es dauert wirklich nicht lange. Wir haben einen Betreuer verfügbar, falls Sie mit jemandem reden möchten«, sagte der Mann unbeholfen und mit einem Zögern, wegen dem Jude ihn am liebsten zusammengebrüllt hätte.
»Warum nicht?«, entgegnete er und stand auf. Sie gingen hinein, und Jude gab die Auskünfte, die erforderlich waren, damit der Leichnam zur Bestattung freigegeben werden konnte.
»Was hat sie … ich meine, woran ist sie gestorben?«, erkundigte sich Jude schließlich; erst im letzten Moment fand er den nötigen Mut. Obwohl er es eigentlich gar nicht wissen wollte, musste er fragen.
»Sie ist ertrunken«, antwortete der Assistent und versuchte, es weniger schrecklich klingen zu lassen, indem er das Wort sanft aussprach. »Aber ihr Blutalkohol war so hoch, dass sie schon daran gestorben wäre.«
»Blutalkohol?«, wiederholte Jude benommen. Er blickte sich in dem ruhigen, zweckbestimmten Raum um und betrachtete dann wieder den ordentlichen Hemdkragen und das blonde Haar des Assistenten. Ein junger Mann mit klar geschnittenem Gesicht. Unbewusst kratzte er sich mit einem Fingernagel unter den Nägeln der anderen Hand, während Jude ihn musterte, und entfernte unsichtbaren Schmutz.
»Sie hat nie etwas getrunken.«
Wie um Jude seine Geduld zu beweisen, vergewisserte sich der Mann mit einem Blick in die Akte. Mit dem Finger fuhr er die Zeilen entlang. »Blutalkoholspiegel zehnmal höher als die Fahrtüchtigkeitsgrenze. Sekt.« Er hielt inne und blinzelte, ohne sein Erstaunen verhehlen zu können. »Sekt und Whiskey. Ich könnte Ihnen sogar die Marke nennen …«
»Aber sie war noch am Leben, als sie ins Wasser fiel?« Jude musste es genau wissen.
Der Assistent nickte. »Ihre Lungen waren voll Wasser. Wäre das anders …«
»Also, wo ist der Beamte von der
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