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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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vielleicht unter Druck geschrieben haben könnte. Sie war fast unleserlich.
    Er fuhr die Striche mit seinem Finger nach und musste an Natalie denken, wie sie ihre Handschrift auf dem hinteren Aktendeckel nachgezogen hatte. Dumpf kam ihm zu Bewusstsein, dass sie bald eintreffen musste. Er blickte auf die Uhr. Es war spät, und er hatte nichts zu Essen im Haus. Er durchschritt die Wohnung, leer, und zum allerersten Mal bemerkte, dass sie seinen Zustand der Leere exakt widerspiegelte, als habe er damit gerechnet und sich unbewusst darauf vorbereitet; auf den Moment, in dem die Persönlichkeit zusammenbricht und darauf harrt, sich in neuer Form wieder zusammenzufügen. White Horse hatte gesagt, er sei an die Ostküste geflohen, um ganz zu werden und seine Haut zu finden. All die Zeit sei Vorbereitung. Nun schälte er sich aus der alten Hülle. Ihn schauderte, und er glaubte, Schnee zu riechen, aber das war Einbildung.
    Später … später … aber seine Gedanken wollten einfach nicht weiterlaufen.
    White Horse hatte einige Kleidungsstücke zurückgelassen. Frisch gewaschen hingen sie im unbenutzten Zimmer auf dem Wäscheständer. Jude nahm sie ab und legte sie zusammen. Er holte das Bügeleisen und bügelte ihre Blusen, sog den Geruch nach heißem Dampf und Baumwolle tief ein. Als er fertig war, stellte er das Eisen wieder weg, legte die Kleidung in eine Reisetasche und zog das Bett ab.
    Unter ihrem Kopfkissen fand er ihr Nachthemd. Ich war im Yellowstone-Nationalpark, verkündete es, doch soweit Jude wusste, war White Horse niemals dort gewesen. Es war mit kurzen, abgebrochenen Haaren bestäubt.
    Er hielt das Nachthemd mit beiden Händen hoch und drückte es sich ans Gesicht. Noch vor wenigen Stunden hatte sie es getragen. Wohnte sie bei ihm. War bei ihm in Sicherheit gewesen, bis er das Haus verließ. Er hätte es ahnen sollen. Er hatte es geahnt. Die Schuld wurde unerträglich.
    Jude öffnete den Mund und stopfte sich den Stoff hinein, presste ihn sich an die Nase und in die Augen.
     
    Die Füße auf den Tisch gelegt, saß Michail Guskow im Aufenthaltsraum der Abgeschotteten Anlage und diskutierte mit einigen der gerade eingetroffenen Mitglieder seiner Arbeitsgruppe. Sie tranken Tee oder Kaffee und versuchten es sich in dem funktionellen Raum mit seinen zweckmäßigen Möbeln und den schalldämmenden Wänden gemütlich zu machen. Zur Entspannung blieb ihnen offensichtlich nicht viel Zeit, doch zur Entspannung war die Anlage nicht gedacht, schon gar nicht in diesen Tagen, in denen Arbeit und Freizeit fließend ineinander übergingen. Stärker als ihm lieb war, fühlte sich Guskow an die alte Moskauer Zeit erinnert, doch zugleich hielt er es für passend, wenn man sich lieber in der eigenen Ecke des Käfigs einbunkerte als um der Geselligkeit wegen in einen solch freudlosen Raum zu kommen. Sie hatten nichts anderes verdient: das Fegefeuer.
    Sowohl Nikolai Kropotkin, Neuropyschologe am Moskauer Institut für Hirnforschung, als auch Isidore Goldfarb, dem amerikanischen Programmentwickler, der seit den Anfängen an der Mappaware arbeitete, schien die Umgebung recht egal zu sein: Kropotkin, weil er an sparsame Kargheit gewöhnt war, und Goldfarb, weil er am Asperger-Syndrom litt und nichts davon bemerkte.
    Sie unterbrachen ihr Gespräch kurz, als sie hörten, wie die anderen eingeschleust wurden – Lucy Desanto, Alicia Khan, Calum Armstrong.
    »Die Gang ist komplett«, erklärte Goldfarb. Er produzierte sein eingeübtes geselliges Lächeln und hielt es für exakt die Anzahl Sekunden aufrecht, die er sich antrainiert hatte.
    »Nicht ganz«, entgegnete Guskow und blies über seinen Zitronentee. »Natalie Armstrong ist noch nicht da. Sie hat einen kleinen Umweg nehmen müssen.«
    Kropotkin, älter, drahthaarig, grau und klein wie ein Polarfuchs, blinzelte durch vom Dampf beschlagene Brillengläser. »Das kann ich ihr nicht verdenken. Ich wäre auch lieber auf einem Umweg gekommen.« Er trank seinen Kaffee so brühheiß, dass er mit einem Schmatzen der Lippen Luft darüber ziehen musste.
    Einen Augenblick herrschte Stille. Sie alle waren sich bewusst, wie weit die US-Regierung gehen würde, um sie zu härterer Arbeit anzutreiben, und ihnen war auch klar, was Guskow gemeint hatte, als er von einem »Umweg« sprach.
    »Sie kann nicht entkommen.« Auch das erklärte Goldfarb als Tatsache.
    »Kommt darauf an …«, entgegnete Guskow und warf einen Blick auf ihre Pads, die auf dem Tisch lagen – sie hatten Dateien ausgetauscht

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