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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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großer Gefahr schwebte, falls er noch hier war.
    Seine Tür hatte einen Touchpad-Dienst auf dem Türpfosten, und sie fuhr mit einem Finger darüber. Ein Strahl tastete ihr Gesicht ab, und sie hörte es in der Wohnung läuten.
    Fast eine Minute lang wartete sie. Dann öffnete sich die Tür, und sie erblickte Jude.
    Obwohl er versuchte, sich einen normalen Anschein zu geben, während er die Tür aufhielt, stand er offensichtlich unter einem schweren Schock. Sein Blick war verschwommen und schwankte, sein Gesicht war eingefallen, die Augen rot und feucht. Und als wäre das nicht genug, entdeckte sie in seinem Bewusstsein nicht Jude, den tüchtigen Kriminalbeamten, sondern zwei andere Menschen: einen Mann voll Zorn und Verzweiflung und jemanden, der sich am liebsten in der Ecke zusammengekrümmt und sich bis zu einem Punkt zurückentwickelt hätte, an dem er den eigenen Namen nicht mehr kannte.
    Was immer ihm seit ihrem Abschied zugestoßen war, es musste genauso furchtbar oder noch schlimmer gewesen sein als die Schläge, die sie ereilt hatten. Das sah Natalie sofort. Sosehr sie es auch wünschte, im Augenblick war nicht der passende Zeitpunkt, ihren Gefühlen wegen Dan und der Selfware freien Lauf zu lassen. Sie war die Stärkere, deshalb musste sie noch ein wenig länger durchhalten.
    »Komm herein«, bat er und blinzelte, als schmerzte ihm das Licht in den Augen.
    Kaum dass die Tür hinter ihr ins Schloss fiel und Jude sich von ihr abwenden wollte, legte Natalie ihm die Hand auf den Arm. Er drehte sich ihr zu, und sie fragte leise: »Was ist los?«
    »Meine Schwester …«, setzte er an, vergaß dann aber, wie er fortfahren sollte, und starrte sie nur mit der unbewegten Stumpfheit des Schwachsinnigen an.
    Hätte sie es durch seinen Atem und das Fehlen jedes verräterischen Geruchs nicht besser gewusst, sie hätte ihn für sturzbetrunken gehalten. Ihr wurde klar, dass sie ihm helfen musste.
    »Komm, setzen wir uns.« Hinter dem kurzen Korridor erweiterte sich die Wohnung zu einem großen, hellen Zimmer mit recht gemütlichen Möbeln. Jude ließ sich von ihr hineinführen und setzte sich teilnahmslos auf die Kante einer Couch. Seine Ellbogen ruhten auf seinen Knien.
    Er riss sich so weit zusammen, um zu sagen: »Ich müsste fragen, wie es dir geht, oder? Ich habe etwas gehört. Ein Unfall an der Klinik. Warst du das?«
    Natalie war dankbar über den Augenblick, in dem er mit ungekünsteltem Feingefühl in ihrem Gesicht suchte und sich bemühte, auf ihre Antwort zu horchen.
    »Ja, aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich bin immer noch da, siehst du?« Sie sprach mit ihrer Psychologenstimme, dem warmen, ruhigen Tonfall, den sie bei Traumapatienten und den Opfern von Gewaltverbrechen anzuwenden pflegte. Sein Gebaren deutete darauf hin, dass er noch vor sehr kurzer Zeit von etwas Derartigem betroffen gewesen war. Sie rief sich ins Gedächtnis, was er ihr schon gesagt hatte – seine Schwester –, und war auf der Stelle überzeugt, dass eine schreckliche und endgültige Geschichte sie erwartete.
    »Kann ich dir was zu trinken holen?«, fragte sie und kauerte sich neben ihn, ohne ihre Musterung abzubrechen. Er brauchte einen Moment, bis er antwortete.
    »Tee«, sagte er und bemühte sich um ein Lächeln. »Das macht ihr Engländer doch so, oder? Tee ist die Antwort auf alle Probleme.«
    »Das Universalheilmittel«, stimmte sie ihm zu. »Ich bin gleich wieder da.«
    Das weiße Wohnzimmer, mit rautenförmigen Energiesparlampen bestückt, verengte sich auf der einen Seite und wurde zu einer kleinen, strahlenden Küche in weißem Marmor und glänzendem Metall. Man kam sich vor, als wohne man im Schaufenster von Tiffany’s, fand Natalie, und erschauerte – wie eigenartig, dass Jude ausgerechnet in einer Wohnung wie dieser lebte. Sie passte nicht zu ihm. Es war eine Angeberwohnung; Dan hätte sie einen Designer-Tuntenpalast genannt. Doch an Dan dachte sie nicht.
    Natalie öffnete und schloss die Schränke, bis sie Tassen und eine rote Schachtel mit Teebeuteln der Marke Twining’s English Breakfast gefunden hatte. Die Schachtel war sehr leicht, und als sie hineinsah, lagen nur noch Teekrümel darin. Andere Schachteln sah sie nicht.
    »Mist!«, rief sie. »Dir ist der Tee ausgegangen.«
    »Nein, da war noch ein Beutel«, sagte er und stand müde auf, um ihn ihr zu zeigen.
    Er nahm die Schachtel und drehte sie selbstsicher um, doch als er hineinsah, erstarrte er.
    »Merkwürdig«, sagte er. »Ich hätte schwören können, dass ich

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