Mappa Mundi
verständnislos an. Offensichtlich aß er nicht oft zu Hause. Die Sache schien ihm völlig neu zu sein.
»Du hast gesagt«, fuhr Natalie fort, »dass deine Schwester entschlossen war, unanfechtbare Beweise zu finden. Der Scanner war solch ein Beweis. Trotzdem trug sie ihn ständig in ihrer Handtasche bei sich, obwohl du sie gewarnt hattest, sagst du. Sie muss doch gewusst haben, dass das Ding sie in Gefahr bringen könnte. Wäre es nicht besser gewesen, es in ein Bankschließfach zu legen?«
Jude zuckte mit den Achseln, doch sein Gesichtsausdruck ließ durchscheinen, dass er plötzlich ihrem Gedankengang folgte. »Sie hat großen Einrichtungen nicht getraut, einschließlich Banken.«
»Könnte sie den Scanner vielleicht hier gelassen haben?«
»Und dann hat sie sich eine überzeugende Nachbildung davon gebastelt?«
»Nein. Aber der Scanner ist ein Gerät wie jedes andere. Nach außen hin unauffällig, denn die Funktionen laufen natürlich in seinem Innern ab. Das Äußere ist unwichtig. Vor allem aber ist der Scanner ein Gerät, von dessen Funktionstüchtigkeit man sich nur überzeugen kann, wenn man selbst Träger von aktiviertem NervePath ist. Das war deine Schwester nicht. Vielleicht hat sie das erkannt, und für den Fall, dass man sie schnappt, nur das Gehäuse mit sich herumgetragen, um notfalls ein Faustpfand zu besitzen. Andere hätten keinen Grund gehabt, an der Echtheit des Geräts zu zweifeln, und sie musste ihre Beweise schützen.« Natalie wusste, dass sie richtig lag. »Vielleicht hätte sie selbst dir nichts davon erzählt, damit du es bei einem Verhör nicht verraten konntest. Wer immer ihr das angetan hat, wird nicht davor Halt machen, deine Wohnung zu durchsuchen …«
»Ihr was angetan hat?«, fragte er, während er sie mit seinem Blick durchbohrte.
»Sie im Fluss ertränkt …«
»Davon habe ich kein Wort gesagt.«
Die Raumtemperatur schien auf den absoluten Nullpunkt zu sinken. Natalie begriff plötzlich, dass sie nicht die leiseste Idee hatte, woher sie in allen Einzelheiten wusste, wie Judes Schwester zu Tode gekommen war, doch sie wusste es, und nun betrachtete er sie mit schneidendem Misstrauen und einer kochenden, hitzigen Feindseligkeit.
»Nein«, sagte sie. »Davon hast du nichts gesagt. Aber sie ist im Potomac ertrunken, oder? Und …«, sie begriff nicht einmal, was ihr als Nächstes in den Sinn kam, aber sie sprach es trotzdem laut aus, »sie war betrunken von Sekt.«
Jude stellte den Aktenkoffer ab und schritt auf sie zu, bis ihre Gesichter nur noch eine Unterarmlänge voneinander entfernt waren; die Frühstückstheke trennte sie. Er beugte sich noch weiter vor, und seine dunklen Augen musterten die ihren genau. Unvergossene Tränen standen darin, die im Moment jedoch mehr von Zorn als von Trauer herrührten. Seine Stimme war ruhig und viel beherrschter, als sie erwartet hätte.
»Du solltest mir jetzt sehr genau erklären, was dir bei diesem Unfall zugestoßen ist, sonst gehen wir in Zukunft getrennte Wege.«
In so wenigen Worten und so einfach wie möglich schilderte Natalie ihm, was geschehen war und wie sie sich ihrer Vermutung nach veränderte.
»So etwas ist mir noch nie passiert«, betonte sie, ohne einen Zoll zurückzuweichen. »Ich habe nicht einmal eine Theorie, um es zu erklären. Auf dem Flugzeug, im Taxi … es war, als könnte ich die Körpersprache der Menschen lesen und allem, was sie tun, Informationen entnehmen. Ich weiß, was sie wirklich empfinden. Es ist, als könnte man Gedanken lesen. Trotzdem kann ich nicht erklären, woher ich das mit White Horse weiß. Ich weiß es einfach. Ich muss es von dir wissen. Wie, kann ich nicht sagen. Wie kann so etwas in deinem Verhalten stecken? Das ist unmöglich.« Natalie hob die Hand zur universellen Geste des Bittens, und Jude senkte den Blick aus natürlichem Widerwillen und Argwohn gegenüber jemandem mit einer Befähigung, die sein Begreifen überstieg – jemand, der in seine geistige Intimsphäre eindringen konnte.
Natalie hätte das Gleiche empfunden. Sie empfand das Gleiche. Sie legte keinen Wert darauf, ungefragt zu erfahren, was im Kopf eines anderen Menschen vorging. Sie hatte sich schon in zahlreiche andere Menschen hineinversetzt, viele davon geschädigt, einige banal, einige erbarmungswürdig. Das war schlimm genug gewesen, aber das hier war furchterregend.
Sie legte die Hände auf die kalte Marmorplatte und atmete tief durch, während Jude sich an die Theke lehnte, den Kopf senkte und angestrengt
Weitere Kostenlose Bücher