Mappa Mundi
Gleiche wollte wie sie.«
»Du hast dich von ihr bloßgestellt gefühlt«, erriet Natalie.
Jude seufzte und verzog das Gesicht, weil es ihn schmerzte, das einzugestehen. »Ich habe mit ihr darüber gesprochen, wie multikulturell die Welt doch sei und wie wohl ich mich fühlte -Weiß und Rot in einem, waren mir Herkunft und Hautfarbe egal. Doch die ganze Zeit war ihre Leidenschaft die Messlatte, die sie gesetzt hatte, und die ich zu erreichen suchte; in ihren Ideen lebte ich. Sie war fest umrissen, und ich bin … noch gar nicht umrissen. Ich lege mich auf nichts fest. Mir gefiel die Idee nie besonders, mit etwas gleichgesetzt zu werden, das so zufallsbestimmt ist wie mein Erbmaterial.« Er verstummte, denn er begriff, dass er um das herumredete, was er eigentlich sagen wollte.
»Wäre ich nicht so ein herrschsüchtiges Arschloch gewesen, das unbedingt Recht haben wollte, und hätte ich ihr mehr von dem erzählt, was ich weiß, wäre sie vielleicht nicht allein aus dem Haus gegangen und gestorben.«
»Mach dir keine Gedanken wegen deiner Überlebenden-Schuldkomplexe, du lebst nicht lange genug, um sie genießen zu können«, sagte Natalie und strich ihm behutsam das Haar aus dem Gesicht, dann richtete sie sich entschlossen auf. »Ich gehe unter die Dusche. Inzwischen könntest du das hier lesen.« Sie nahm ihr Pad vom Nachttisch und rief eine Datei auf.
Jude sah ihr nach, ein vorübergehender Rückzug vom Schlachtfeld. Sie ist so klein, dachte er. Aber perfekt. Er fragte sich, wie viel von ihr mit Dan fortgegangen sei – dem Mann, der ihn am ersten Tag beinahe vor der Klinik umgerannt hatte. Jude konnte sich nicht einmal erinnern, wie er ausgesehen hatte.
Er stand auf und ging ans Fenster. Er schob die Gardine beiseite und blickte über den Hof der Motelanlage auf die Straße. Pick-ups bewegten sich langsam um den Imbiss gegenüber; sie erinnerten an große, behäbige Käfer. Er horchte auf das Wasserrauschen aus dem Badezimmer.
Das Leben ging weiter. Das war das Schlimmste und das Beste daran. Zwar fielen Teile ab, aber an sich ging es immer weiter. Wenn sich eine tiefere Bedeutung dahinter verbarg, erkannte Jude sie im Augenblick nicht mehr denn je. Er war froh darüber, denn deswegen war jeder Einfluss, den er ausüben konnte, klein und weitgehend unbedeutet, und das war gut so.
Er beschloss, sich ein wenig davon zu erholen, er selbst zu sein, und Natalies Datei zu lesen. Er zog die Tagesdecke ab, damit er endlich auf etwas weicherem als dem Nylon liegen konnte, nahm ihr Pad und las:
Das Projekt Mappa Mundi ist erst kürzlich zu einer gemeinsamen Anstrengung geworden. Es fußt auf zwei verschiedenen Theorien.
Die erste betrifft die Physiologie des Gehirns, die Physik des Gedankens.
Die zweite befasst sich mit der Natur des Bewusstseins und dem Aufbau des Geistes.
Die erste ist empirisch – man kann etwas ausprobieren und sieht, ob man Recht hat. Man kann kartieren und Bilder anfertigen von dem, was tatsächlich in einem Gehirn abläuft, und die Daten analysieren. Diese erste Methode ist fest in der wirklichen Welt verankert.
Die zweite war bis zur Entwicklung von Micromedicas NervePath-System® eine reine Theorie, ein Gedankengebilde, eine Idee, wie die Erfahrung des Ichs analysiert werden könnte.
Um das Bewusstsein zu kartieren – mit dem Ziel, sie in die physische Karte des Gehirns einzupassen –, wurde als wichtigstes Werkzeug das Konzept der Meme eingeführt.
Ein Mem stellt die Basiseinheit von Ideen dar wie das Gen die Basiseinheit eines DNA-Strangs. Alle Ideen sind Meme oder bestehen aus Kombinationen von Memen, in welchem Fall man sie als Memkomplex oder Memeplex bezeichnet. Jedes Mem aktiviert bestimmte neurale Zustände im Gehirn. Dieser Zusammenhang ist konsistent: Man kann ein Mem direkt mit einer physischen Erscheinungsform der Neuronenaktivität in Beziehung setzen. Daher können wir die memetische Theorie benutzen, um ein Modell von Gehirn und Bewusstsein zu erzeugen.
In der Alltagswelt ist eine Karte die zweidimensionale Darstellung einer dreidimensionalen Wirklichkeit. In einem Bewusstsein gibt es erheblich mehr als drei Dimensionen, die zu berücksichtigen sind.
Das menschliche Bewusstsein organisiert seine Idee um eine Ballung von skalierten Achsen in einem theoretischen n-dimensionalen Raum namens Memecube. Diese Achsen sind ausnahmslos bipolar, etwa die Skala für Größe, die zwei gegensätzliche Extreme aufweist: Klein und Groß. Andere grundsätzliche Extreme sind
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