Mappa Mundi
Dunkeln, wenn Sie sich entscheiden müssen.«
»Sie sprechen aus Erfahrung?«, erkundigte sich Guskow.
»Nein, aber ich«, sagte Ian. »Machen Sie allein weiter, ja? Ich bin müde.«
Guskow und Natalie gingen gemeinsam davon. Ian hörte ihn sagen: »Das bedeutet noch immer nicht, dass unser Projekt sinnlos wird. Längst nicht. Denken Sie doch nur an die Möglichkeiten, die sich von der simplen Kontrolle einmal abgesehen erschließen. Sogar Kontrolle über den Selfplex. Überlegen Sie nur, was wir über uns selbst lernen könnten.«
»Das habe ich nie bestritten«, entgegnete Natalie, als sie unter den Blicken der anderen die Tür zum Kontroll-Center passierten. »Aber Ihr Traum von der Perfektionierung ist eine Illusion. Der Mensch lässt sich nicht perfektionieren. Für uns ist es besser, wenn wir weiterhin versuchen, die Welt selbstständig zu verstehen, als Ihre Weltsicht auferlegt zu bekommen.«
»Ich meine, ein Stoß in die richtige Richtung könnte nicht schaden …«
Die Diskussion verlief weiter im Kreise. Ian verstand beide Seiten. Er konnte nicht sagen, dass er von einigen der Systeme nicht profitiert hätte. Er konnte allerdings auch nicht sagen, sich dergleichen gewünscht zu haben. Einen Krieg verhindern oder ein Leben retten zu können war jedoch womöglich den Preis wert, das eine oder andere Bewusstsein abzuwandeln.
Er wurde sich der beiden anderen Frauen gewahr, Khan und Desanto. Sie ließen ihn nicht aus den Augen, während sie sich erhoben, um Guskow ins Kontroll-Center zu folgen. Ihr Blick war misstrauisch, furchtsam und zugleich mitleidig.
Ian schloss die Augen und wartete. Sein altes Ich wäre nun sentimental geworden. Es hätte diese Welt vermisst. Nun aber freute er sich auf die Wiedervereinigung mit den freien Kräften. Menschliches Verlangen besaß keine Bedeutung mehr, außer seiner Schuld gegenüber Natalie und den Rest, an den er nicht denken wollte. Mit diesem langsamen Primatenverstand belastet, war er außerdem verdammt, niemals wirklich im Ganzen begreifen zu können, was er wusste und beobachtete. Selbst was er eben gesagt hatte – was davon erklärte auch nur ansatzweise etwas? Nichts.
»Okay«, sagte eine Stimme von außen.
Ian schlug die Augen auf. »Was soll ich tun?« Er hatte bereits entschieden, dass es das letzte Mal wäre. Kein weiterer Versuch. Er würde aufgeben. Sie waren schon in einer viel schlimmeren Hölle, als er sie ihnen je bereiten könnte.
»Gehen Sie«, sagte Natalie.
Durch die Trennwand trat er in Blickkontakt zu ihr und erkannte, dass sie seine Absicht begriff. Ihr standen Tränen in den Augen. Sie war gerade unterhalb der Schwelle, von der an er begonnen hatte, in die tieferen Schichten der materiellen Welt zu greifen. Ganz kurz fragte er sich, ob Menschen wie sie immer auf diese Art sterben müssten, oder ob es nur an ihm und seinen Reaktionen lag, die durch den Menschen bedingt waren, der er gewesen war: Ian Detteridge, Vater eines Kindes, Ehemann, Durchschnittsbürger, nicht geschaffen für solch eine Aufgabe.
»Geh«, sagte sie.
Er hob die Hand und winkte ihr zu.
»Tschüss.«
Er ließ los.
23
Natalie las Judes Nachricht zum dritten Mal:
Regierungsversion des Virus nicht die gleiche wie die aus Atlanta. Rein biologisch. NP abgeschlossen. Habe mich in die WH-Ermittlung verbissen. Halt die Ohren steif.
Auf diese Entfernung erhielt sie keine Einsichten, was er, wenn überhaupt, zwischen den Zeilen andeuten wollte. Sie musste es erraten oder erfinden. Natalie beschloss, sich nicht darum zu kümmern. Sie konnte ihm nicht helfen, und er vermochte nicht mehr für sie zu tun als das, was er getan hatte – und das war schon eine Menge.
Es war elf Uhr abends. Nachdem Natalie gerade zwei Stunden geschlafen hatte, weckte sie der leise Glockenton, mit dem ihr Pad den Eingang einer Nachricht anzeigte. Seit Ians Auflösung am Morgen war der Tag eine ununterbrochene Folge von Befragungen gewesen, von Analysen und Erkundigungen, und als sie endlich eine Pause machten, war sie zusammengebrochen, ohne etwas gegessen zu haben. Hungrig, durstig und mit Kopfschmerzen, die ihren gesamten Schädel auszufüllen schienen, wusch sie sich Hände und Gesicht, dann schleppte sie sich zur Krankenstation.
Der Raum war geschlossen, aktivierte sich aber, als sie in den Retina-Scanner neben der Tür blinzelte. Rechts von ihr schälten sich, als sie sich umwandte, kantig und fremdartig die undeutlichen, blauen Umrisse der Tragbahre und der Lampen im
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