Mappa Mundi
salzig.
»Ist er jetzt tot?«
Natalie schluckte und versuchte zu denken. »Ich weiß es nicht«, sagte sie am Ende. »Aber er kommt nicht mehr wieder. Vielleicht schweben Teile seines Informationsinhalts hier noch herum, aber sie reichen nicht, um sie zusammenzunehmen und mit einem Namen anzusprechen.«
»Aber was ist – Sie wissen schon – mit dem Rest?«, fragte Lucy. »Glauben Sie etwa nicht an Gott? Was ist denn damit? Hat er darüber je etwas gesagt?«
»Zu mir nicht.« Natalie begriff, worauf Lucy hinauswollte. Im Kühlschrank fand sie einen Klumpen, bei dem es sich vielleicht um Käse handelte, und begann, mit seiner zähen Plastikverpackung zu kämpfen. Sie spürte, wie Lucys Gier nach Beruhigung sie zu verschlingen suchte, und sie wusste, wenn sie sich jetzt umdrehte und darin fangen ließ, würde sie den toten Jungen wiedersehen. Sie begann, mit einem Messer am Kunststoff zu säbeln und bemühte sich um Geduld, obwohl ihr Magen knurrte, ihr Kopf zu bersten drohte und der Wunsch in ihr brannte, Jude wäre bei ihr und nicht diese unbeholfene Frau mit ihrer riesigen Existenzangst gleich unter Oberfläche.
»Bitte.« Lucy hatte Natalie plötzlich am Ärmel gepackt. »Sie sind wie er. Fast jedenfalls. Wissen Sie es nicht?«
»Was soll ich wissen?«
»Was jenseits dieser Welt ist. Die Seele. Sie ist nie bewiesen oder widerlegt worden und wurde auch an den liberalsten Universitäten niemals mit Bewusstseinsstudien verknüpft. Ich meine, es muss doch mehr geben als bloß …«
»Wenn«, Natalie blieb diplomatisch, »habe ich nichts davon gesehen. Ich habe es nicht gefühlt. Das war’s schon. Mehr weiß ich nicht.« Sie bemerkte, dass sie mit einer Hand die Plastikverpackung umklammerte und mit der anderen den Messergriff, während beide Hände auf der Tischplatte ruhten. Sie konnte sich gerade noch beherrschen, sonst hätte sie Desanto die Klinge in den Bauch gerammt. »Ich kenne viele verstorbene Menschen. Sie kehren nie zurück. Von ihnen bekommt man nicht mal eine Postkarte.« Sie verabscheute sich selbst für ihre schnoddrige Entgegnung und säbelte aufs Neue an der Packung. Warum konnte Dan nicht bei ihr sein? Für ihn hätte sie die ganze Bande sofort hergegeben.
»Na ja.« Lucy zog sich nun widerstrebend zurück, denn sie sah, dass Natalie ihr nicht geben würde, was sie haben wollte. »Wenn Sie … Sie wissen schon, noch einmal von ihm hören …«
»Er ist fort. Warum können Sie das nicht akzeptieren?«, sagte Natalie und drückte Käsestückchen auf die Cracker, als arbeitete sie am Fließband.
»Weil ich es nicht kann.« Lucys Stimme klang belegt; sie war den Tränen nahe.
Natalie schloss die Augen, aber das ersparte ihr nicht den Anblick des Jungen auf der Straße: Sein Bein war in die falsche Richtung gebogen, sein Kopf lag auf dem Asphalt; sein Augen waren blicklos. Sie wollte Desanto aus dem Nacken und aus den Gedanken und entschloss sich zu einer Lüge.
»Er ist tot«, sagte sie mit ihrer ruhigen Klinikstimme. »Es ging sehr schnell. Er hatte keine Schmerzen.«
Sie wartete, die Hände auf dem Tisch, bis Lucys katholischer Glaube die Worte aufnahm und eine Bestätigung ihrer Hoffnungen herauslas.
»Danke«, wisperte Lucy nach einer Weile. Erneut fasste sie Natalies Arm, doch diesmal umklammerte sie ihn dankbar. »Vielen herzlichen Dank. Ich wusste, dass Sie es sehen könnten. Ich wusste, alles ist gut.«
Als Lucy sich zum Gehen anschickte, erwiderte Natalie aus Neugier ihren Blick. Lucy hatte offenbar verstanden, sie hätte gemeint, ihr Sohn sei hinübergegangen, und sie würden einander auf irgendeine unbeschreibliche Weise körperlos in einem Jenseits wiedersehen, das frei war von Sorgen und ewig währte. Lucy wähnte, dass Natalie dies mit einer Sicherheit sagen konnte wie sonst kein Mensch auf Erden es vor ihr je gekonnt hatte – außer Jesus Christus.
Plötzlich fragte sich Natalie, wer von ihnen sich wirklich irrte. Konnte sie denn beweisen, dass Lucys Glaube falsch war? Was war denn so inspirierend, wenn sie an Dan – den guten, glücklichen, dämlichen, hilflosen Idioten Dan – als auf ewig vernichtet dachte, ohne dass außer ihrer Erinnerung an ihn noch irgendetwas von ihm übrig wäre? Lucy schöpfte Trost aus ihrer Selbsttäuschung. Natalies freudlosere Sicht konnte sich ebenso gut als Irrglaube erweisen.
Während Natalie zögerte, entfernte Lucy sich dankbar lächelnd rückwärts von ihr; dann verschwand sie, um eine Weile allein zu sein mit ihren Tränen und
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