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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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sentimentalen Visionen vom Wiedersehen und der endgültigen Vergebung aller Fehler, die Natalie niemals, auf keinen Fall, je erhalten würde.
    Sie empfand das Entsetzen und den verzehrenden Zorn über Charlottes Verrat, als wäre es gerade erst geschehen. Und nun Dad – was hatte er vor? Dieser irrsinnige Plan, in den sie verwickelt war, Gefangene ihrer eigenen Ideen. Dan war tot, jawohl, tot – sie alle waren, Ian war einfach vergangen, hatte sich Atom für Atom in Luft aufgelöst. Ihr ginge es noch genauso. Ihnen allen.
    »Wie ich das hasse!« Natalie beugte sich vor und schleuderte mit einer Armbewegung Teller und Cracker quer durch den Raum. Sie prallten gegen das rostfreie Stahlgehäuse des Herdes, und die Cracker verteilten sich über den Fußboden. Der Teller zersprang nicht, denn er war bruchfest; kreiselnd wirbelte er über den Boden und kam auf den Fliesen zum Liegen.
    Natalie nahm den Käsekanten und biss die Ecke ab. Er schmeckte ganz okay. Sie blickte die Bescherung auf dem Boden an und seufzte. Lucys Hoffnungen waren vergebens, und damit hatte es sich. Sie, Natalie, hatte nichts eingebüßt, was nicht längst schon verloren gewesen wäre. Kauend suchte sie Handfeger und Müllschaufel und kehrte die Cracker zusammen. Sie tauchte einen Teebeutel in die Tasse und trank gleichzeitig ein Glas Wasser, als Guskow hereinkam. Er trug dicke Socken und einen uralt aussehenden Jogginganzug.
    »Hm«, machte er, ging lächelnd an ihr vorbei und holte sich eine Packung Multivitaminsaft aus dem Kühlschrank. »Was hat sie von Ihnen gewollt?«
    Er sprach über Lucy, der er auf dem Korridor begegnet war.
    »Trost«, antwortete Natalie. »Sie wissen schon, die Sache, ohne die wir Ihrer Ansicht nach besser dran wären.«
    »Ah, na, na.« Guskow öffnete die Packung, nachdem er sie durchgeschüttelt hatte. »Da haben Sie Unrecht. Ich möchte nur, dass jeder von etwas getröstet wird, das Wirklichkeit ist und keine Einbildung.«
    »Sie haben mir keine Antwort gegeben, als ich Sie fragte, was Sie mit ›Wirklichkeit‹ meinen.« Natalie zog den Teebeutel heraus und schnipste ihn in den Mülleimer. »Ich frage mich die ganze Zeit, warum Sie glauben, solch eine exklusive Sicht auf die Wirklichkeit zu besitzen.«
    Er ließ sich schwerfällig in einen der Metallrohrsessel sinken. »Sie haben doch heute mit Ian gesprochen. Sie haben zugesehen, wie er sich in die Moleküle auflöste, aus denen er bestand. Sie haben ihn ausführlich über die Natur und den Aufbau der Welt reden hören. Nichts von dem, was er sagte, könnte mich zu dem Gedanken verleiten, dass wir als Spezies schlechter dran wären, wenn wir die Tatsachen in unserem Leben erkennen und die Fantastereien ablehnen, von denen wir zu Verhaltensweisen gezwungen werden, die dann erniedrigende Folgen hervorrufen.«
    »Ja, so habe ich das auch gesehen. Lucy hingegen hat ein Wunder beobachtet. Alicia sah ihren Glauben an eine poetische letztendliche Vereinigung mit dem Rest der Schöpfung bestätigt. Isidore sah einen Mann verschwinden. Meinem Vater bot sich der schreckliche Anblick eines Mannes, den es in Stücke riss und der sich auflöste, weil sein Wille zu schwach war. Wir betrachten Ereignisse durch den Filter unseres Ichs. Ich verstehe immer noch nicht, was Sie mit Mappa genau erreichen wollen. Möchten Sie, dass wir alle gleich sind? Wie sollte das je möglich sein, es sei denn, Sie erlegen uns allen Stillstand auf, sodass alle Gedanken auf ewig in den gleichen Bahnen verlaufen, damit niemand mehr auf eine neue Idee kommt?«
    »Darum geht es bei der geistigen Freiheit aber nicht.«
    »Welches Programm werden Sie dann benutzen, wenn Sie mit Hilfe Ihres Deliverance-Systems eine globale NervePath-Infektion hervorgerufen haben?«
    Natalie beobachtete sein Gesicht, das einen Augenblick lang Schrecken preisgab; dann verwandelte seine Miene sich allmählich in ein Lächeln.
    »Das wäre für sich genommen schon eine beachtenswerte Leistung. Ich rechne nicht mit hundertprozentiger Erfassung.
    Anfänglich eher um die sechzig Prozent.« In seinen Augen funkelte das ätherische Feuer, das ihn stets als klüger, zäher und gerissener als alle anderen hatte hervorstechen lassen. »Was das Programm betrifft …« Kopfschüttelnd seufzte er und gab vor, den Dosenaufdruck zu studieren. »Ich habe an vieles gedacht. Zuerst wollte ich alle Religionen beseitigen. Als ich ein Junge war, erschienen sie mir als das personifizierte Böse: willkürlich, voreingenommen, grausam, repressiv.

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