Mappa Mundi
betrachtete sie mit väterlicher Toleranz.
»Wissen Sie eigentlich, dass viele meiner Wissenschaftler tiefes Unbehagen wegen der offensichtlichen Folgen des Projekts verspüren? Es belastet ihr moralisches Empfinden. Diese Leute sehen, dass sie all Ihren schönen Werten zum Trotz ein Werkzeug schaffen, das zur totalen Unterdrückung missbraucht werden kann. Von diesen zwanzig Wissenschaftlern könnte wenigstens die Hälfte, vielleicht sogar mehr, rasch an den Punkt gelangen, an dem sie die Arbeit verweigern. Und wenn sie einmal eingeschlossen sind und streiken, wen soll ich dann nehmen? Und wer wird sie überwachen, damit sie nicht die Arbeit aus einem Moment des fehlgeleiteten, heldenhaften Idealismus heraus sabotieren?« Er neigte den Kopf zur Seite und blickte sie durch aneinander gelegte Finger an.
»Ich maße mir nicht an, einem Experten der Nötigung Ratschläge zu erteilen«, entgegnete sie glatt. »Diese Frage können Sie besser beantworten als ich.« War nun nicht sie auf dem Rückzug? Hinter ihrer kühlen Fassade fletschte sie die Zähne.
»Also«, sann er, »würden Sie ihre Familien als Geiseln nehmen und ihren Besitz beschlagnahmen. Sie, die amerikanische Regierung, würden einfach gestrickte Emotionsumleitungsprogramme benutzen und Ihren unbeholfenen, schlecht ausgebildeten NervePath-Programmierern befehlen, die Persönlichkeiten Ihrer Wissenschaftler neu zu modellieren? Sie würden nicht zögern, etwas einzusetzen, das von allen Nationen ausgerechnet Ihre Kultur in vorderster Linie bekämpft? Sie sind sich wirklich für nichts zu schade? Sie zermalmen gnadenlos die Freiheit unter Ihrem Stiefelabsatz?«
Mary spürte, wie ihr Lächeln allmählich bitter und kalt wurde. »Darauf können Sie sich verlassen.« Als sie es gesagt hatte und sein Grinsen zu einem Lächeln erblühte, erkannte sie, dass sie nicht geblufft hatte. Sie würde es tun. Sie wäre dazu fähig. Diese Erkenntnis war ihr Triumph und Enttäuschung zugleich, zwei derart ineinander verflochtene Gefühle, dass Mary sie nicht zu entwirren vermochte.
»Dann gebe ich Ihnen meine Liste«, sagte er. »Zehn Namen. Wie abgesprochen.«
Sie runzelte fragend die Stirn.
Guskow löste lächelnd seine Finger voneinander und breitete die Hände aus. »Es gibt einige Menschen«, sein Gesichtsausdruck machte ihr klar, dass er annahm, sie wüsste, wen er meine, »denen selbst ich niemals trauen würde, Miss Delaney.«
Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob auch sie auf dieser Liste stehe, doch heute hatte sie ihm schon genug Punkte abgeben müssen. Sie fragte ihn, ob er etwas trinken wolle, und sie stießen mit Wodka auf ihre Übereinkunft an.
Nachdem er gegangen war, machte Mary sich daran, Rebecca Dix ihren Bericht zu schicken, und legte die Hand auf das Tastenfeld ihres Pads. Dabei beschlich sie das Gefühl, ihr sei etwas entgangen, doch dann begriff sie, dass sie nur den Glasshuttle vermisste, der nicht mehr an seinem Platz stand. Sie schüttelte den Kopf, um das Gefühl zu vertreiben, und wählte.
Natalie starrte an die Decke des Gästezimmers, während draußen die Dämmerung hereinbrach. Durch das vorhanglose Fenster drang das trübe, graue Licht wie der Atem eines alten Tieres, das schwach und unwillig in der Kälte wartete. Auf der Straße hörte sie den Wagen des Milchmanns surren, und leise klirrend wurden Flaschen vor allen Häusern abgestellt, nur nicht vor ihrer Tür.
Sie konnte es nicht glauben. Was war sie für eine Idiotin. Was war sie für eine blöde Kuh. All das zu erzählen und dann … sie krümmte sich innerlich, als sie an ihr wollüstiges Gehabe dachte. Du lieber Gott. Er musste sie für völlig durchgeknallt halten. Dann fiel ihr erst die Datei ein und darauf das für den Tag geplante Experiment, das sie in der vergangenen Nacht so bereitwillig vergessen hatte. Zusammengenommen war es ihr zu viel. Sie wollte zurück in die Sicherheit ihres alten, ereignislosen Lebens.
Neben ihr drehte Jude sich auf den Rücken, streckte die Hand aus und berührte sie an der Schulter.
»Wach?«
»O ja«, sagte sie. Sie drehte den Kopf auf dem Kissen und blickte ihm ins Gesicht.
Zu ihrer Erleichterung lächelte er und legte die Hände hinter den Kopf. »Ich schätze, ich sehe so schlecht aus, wie du dich fühlst?«
»Viel schlimmer.« Sie war bewegt und überrascht, ja froh, als er wieder eine Hand ausstreckte und ihr mit einem Finger zärtlich über die Nasenspitze streichelte.
»Deine Wissenschaft hat etwas mit meinem Kopf
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