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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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Durchlesen des Befundes.
    Zwischen medizinischem Gerät und medizinischer Terminologie atmet leise der Patient, lauscht besorgt, versteht alles, auch die Fremdwörter. »Anacidität ist immer verdächtig …«, sagt der Arzt während der Untersuchung ins Telefon. Der Patient horcht aufmerksam, weil es um ihn geht: weiß, dass er keine Säure hat.
    Hat keine Säure oder hat Zucker, oder der Verbrennungsprozess ist unzureichend: Und jenseits von all dem ist irgendwo er, der Mensch, mit seinem Schicksal, das nicht Säure und Zucker und Drüsen, sondern all das zusammen ist, und über all dem das Mysterium, das nur er kennt. Das enträtsele, Doktor, wenn du ein Doktor bist, so wie Liszt ein Musiker war, so wie Gott – Gott sei Dank – ein Gott war.
    STÄDTEBILDER
    Städte müsste man so beschreiben wie die Erinnerung an einen Gedanken oder an ein Gefühl. Mich langweilen und regen »Städteporträts« auf, wenn sie damit anfangen, dass irgendwo ein Kirchturm erscheint, und fortfahren mit den Prozentzahlen von Nationalitäten, mit den Kalorien, die ihre Ureinwohner mittags und abends zu sich nehmen. Das ist doch unwesentlich. Eine Stadt ist vor allem ein Gedanke, der in keinem Grundbuch festgemacht werden kann.
    DANDY
    Die großen Dandys – Fox*, d’Orsay, Eduard VIII ., Baudelaire, Zsigmond Justh*, Disraeli –, sie haben den Geschmack einer Epoche vertieft, wenn sie aus all den Extravaganzen irgendetwas Allgemeines für die Massen herausdestillierten. Sie begannen mit weißer Hose und roten Schuhsohlen, und das Endresultat ihrer Bemühungen ist, dass man Kniehosen nur noch am englischen Königshof trägt und selbst Gerichtsvollzieher Proust lesen. Der Dandy, ein echter, schneidert aus der Affenparade, über die sich die Masse zu Recht belustigt, eine Lebensweise für sie, macht aus dem überzogenen Feiertag einen menschlicheren, menschenwürdigeren Alltag, zähmt – den Geschmack verschreckend – die nüchterne, fantasielose Geschmacklosigkeit, speist abends bei Kerzenlicht geschmorte Wachteln, doch ihm haben wir zu verdanken, dass die Massen gelernt haben, mit Messer und Gabel zu essen. Der Dandy, auch wenn er frech ist, wird niemals ungezogen sein; wer respektlos ist, nötigt den Massenmenschen am Ende Respekt ab. Der Dandy erzieht, indem er das genaue Gegenteil dessen tut, was man ihm anerzogen hat. Diese Sorte Mensch ist ausgestorben. Ewig schade um sie. Geblieben sind uns die populären Kinoakteure.
    ARANY
    Ich lebe und schlafe inmitten von Büchern. In schlaflosen Nächten strecke ich den Arm aus und hole tastend einen Band vom nahen Bord.
    Ich lebe mit einigen tausend Büchern, die ich mir nicht selbst ausgesucht habe; das Leben, Neugier, Reisen und mein Metier, Buchhändler und Autoren haben sie angeschleppt, sie beehrten mich gelegentlich mit ihren geistigen Neugeburten, schickten mir täglich vier, fünf Bände auf den Hals, in der Hoffnung auf ein günstiges Urteil. Diese Bücher umlagern vorwurfsvoll fordernd mein Bett, und ich schiele mit schlechtem Gewissen zu ihnen hin. Doch das Leben ist kurz. Ich lese nur noch, was ich mag und wovon ich mir etwas verspreche: Belehrung oder Vergessen.
    Nachts, wenn ich auf gut Glück den Arm ausstrecke, nehme ich am häufigsten Arany vom Regal; diese schöne, auf gelbliches Papier gedruckte Ausgabe, die László Arany* besorgt und Moric Ráth* 1888 in Pest gedruckt hat. Die Ráth’sche Arany-Ausgabe erweist sich als mein treuester nächtlicher Gefährte. Eigentlich ist es ganz egal, welchen Band ich aufschlage; ich will mich ja nicht mit irgendeiner Kunstgattung, sondern mit Aranys Seele abgeben. Aus den Balladen wie aus dem Toldi * oder seinen Briefen spricht die immer gleiche Seele zu mir. Aufs Geratewohl schlage ich den Band auf, lese langsam darin, längst Vertrautes, manchmal bis zum Morgengrauen. Seine Briefe liebe ich ganz besonders. Was an dieser Seele spricht mich so an? Ihre Vornehmheit oder ihr Ernst? Aranys Tugendhaftigkeit oder seine reizbare, unversöhnlich kämpferische Kraft, wenn es um das geht, was ihm teuer ist: das Ungarntum, die ungarische Sprache, die Literatur? Sein Spleen, der so tief und edel, so nervös und vibrierend, so empfindlich und neugierig ist, dass ich nicht weiß, wo ich seine Wurzeln suchen soll: bei den Bauern von Nagyszalonta* oder irgendwo in der Weltliteratur, bei Ossian? Wenn er Tompa überredet, die Hilfe der Akademie in Anspruch zu nehmen, oder sich beklagt, dass er »… das, was man gewöhnlich Gesundheit nennt,

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