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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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verflüchtigt in der Zeit. Wo ist das Erlebnis geblieben, das ein Paganini, ein Viotti, Vieuxtemps ihrer Zeit beschert haben? Irgendwo findet sich auch diese, die nicht notierte Musik, irgendwo zwischen Himmel und Erde.
    Allein der Künstler, der sein Werk fixiert, kann mit einigem Erfolg gegen den Tod ankämpfen.
    STIL
    Stil war für Schopenhauer das Abbild der Seele. Ein verlogener Stil ist eine Maske: Immerfort lugen Kleister, Farbe und Werg hervor. Jetzt, da es dank einer literarischen Schönheitspflege wirklich keine große Sache mehr ist, gewandt und einfach zu schreiben, bevölkern gut frisierte, glatt rasierte Gesichter die Welt der Literatur; sie sind, als wären sie aus einem literarischen Kosmetiksalon hervorgekrochen, alle gleich, alle gewinnend und ein wenig wie fesche südamerikanische Gigolos auf Filmplakaten, alle mit SexAppeal. Deshalb bestaune ich sie zwar zungenschnalzend, lese ihre Sachen aber nicht.
    DER SELBSTMÖRDER
    Am Morgen steht er auf, dann geht er ins Büro, dann heiratet er, dann rückt er in eine höhere Besoldungsgruppe vor, dann bleibt er auf der Straße stehen und betrachtet ein Theaterplakat, zündet sich eine Zigarette an, dann legt er sich schlafen und steht eines Tages nicht mehr auf. Da vor mir geht er, der Selbstmörder, und geht in den Tod; und ich kann nichts für ihn tun.
    TROPEN
    Die Frau, die mir gegenübersitzt, ist ein Halbblut: Ihre Mutter war eine Eingeborene aus den Tropen und gehörte zu einem Stamm, der dem Kannibalismus anhing. Die Leute, die über ihre Herkunft Bescheid wissen, beteuern, die Mutter habe noch Menschenfleisch gegessen. Dann – Macht der Gewohnheit, nicht wahr! – wurde sie die Frau eines britischen Kolonialbeamten. Das Ehepaar flüchtete wegen der gesellschaftlichen Zwänge des englischen Kolonialismus. Ihr Kind ist besagte Frau, die mir jetzt gegenübersitzt und sich in ihrer Eingeborenensprache mit meinem Bekannten unterhält: in einer Sprache, die weich wie die ungarische ist und die ich nicht verstehe.
    Ihre Körperhaltung ist geschmeidig und elegant; die auf javanische Messingpokale gravierten spitzhütigen Königinnen sitzen in solcher Pose. Ihre Hände, die wunderbaren typischen Hände des Halbbluts – langgliedrige Finger und biegsame Gelenke –, sind schon gar keine Frauen-, sondern Tierhände. Wie die Hände eines verfeinerten Menschenaffen. Beängstigend tropische Hände. Für keinerlei Arbeit geschaffen. Diese Finger taugen nur zum Beten, zum Umarmen oder zum Morden.
    Sie deklamiert für mich ein Gedicht in ihrer Muttersprache. Alle ihre Gedichte handeln von der Liebe; und wenn sie spricht, ganz leise, ist es, als ließe eine Orchidee ihre Stimme erklingen. »Wer um ein Mädchen freit, deklamiert der Erwählten bei uns tagelang Gedichte«, setzt sie später hinzu.
    Ich frage sie, ob sie in unseren Breiten nicht vielleicht friert. Sie sieht sich verlegen um, lächelt, antwortet nicht. Als ob sie die Gastgeber nicht beleidigen möchte.
    Ihr Alter schätze ich auf achtzehn.
    Später erfahre ich, dass sie dreiundvierzig ist. Alles ist anders.
    DIE KARRIERE
    Eine Zeit lang lief er zerstreut umher, beugte sich über ein Buch oder ein Frauengesicht, lächelte selbstvergessen, betrachtete Sterne oder Blumen oder Selbstmörder – doch dann, eines Tages, »machte er Karriere«; und dabei hat er sich auf so seltsame Weise verändert. Sein Gesicht, das nette, vertraute Gesicht, wurde derart amtlich wie die Gesichter moderner Schaufensterpuppen in den Auslagen: Er lächelte, aber ganz starr, war gut gekleidet, aber ein wenig wie ein Schauspieler oder ein Staatssekretär bei offiziellen Anlässen. Es war, als ginge er ständig in Jackett und Krawatte, auch im Schwimmbad. Als sagte er permanent: »Im Bewusstsein meiner Verantwortung.« Als täte er von Herzen gern, worum ihn die Menschen, die Welt, die Pflanzen und die Waschbären bitten, aber nur von neun bis zwei, während der Dienststunden.
    DER BÜRSTENBINDER
    Ich habe schon Schriftsteller gesehen, Pfarrer, Klosettinstallateure, ja sogar Soziologen, die soffen wie die Bürstenbinder. Nur Bürstenbinder habe ich weder saufen noch nüchtern gesehen.
    Die Sprache des Lebens mit ihrer geheimnisvollen Fähigkeit zur Charakterisierung, sie schafft sich Sinnbilder, die dann, unabhängig vom Vorbild, für sich weiterleben. »Nettes Mädchen, ein klein wenig verstiegen, mondsüchtig«, sagt man. Doch habe ich noch nie eine Mondsüchtige zu Gesicht bekommen; und das Mädchen, das man so beschreibt,

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